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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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»Niemand von uns«, sagte Z., »kann sich an das Wichtigste erinnern.«

74 »So?« wandte einer ein. Es war wieder einmal der Philosophiestudent, der Z. durch seinen Widerspruch erfreute. »Soweit ich weiß, verfügt das menschliche Gehirn über keine zuverlässig funktionierende Löschtaste. Das hat die neurologische Forschung erwiesen. Daran scheitern alle Versuche, das Gedächtnis zu zensieren. Alle Gesetze, die eine damnatio memoriae zum Ziel hatten, waren vergeblich. Sie kennen doch diesen Terroristen aus dem vierten Jahrhundert v. Chr., der in Ephesos einen Tempel in Brand gesteckt haben soll, in der Absicht, berühmt zu werden. Das ist diesem Herostratos zweifellos gelungen. Ebenso erfreuen sich Serienmörder, Tyrannen und Kriegsverbrecher eines regen Nachlebens im Gedächtnis der Menschheit. Vielen von diesen Menschen werden sogar Denkmäler und Mausoleen errichtet.«
    »Da haben Sie recht«, sagte Z. »Aber verwechseln Sie das Gedächtnis nicht mit der Erinnerung? Die vergißt zwar, wenn es ihr paßt, das Wichtigste. Aber sie meldet sich dann, wenn wir am wenigsten darauf gefaßt sind, und das ist nicht immer angenehm. Können wir uns darauf einigen, daß die Gnade des vollständigen Vergessens unserer Spezies versagt bleibt? In dieser Hinsicht haben es die Affen besser.«
    Wir hatten das Gefühl, daß Z. wieder einmaleine Klippe umschifft und einen vorsichtigen Rückzug angetreten hatte.

75 Als er bemerkte, daß sich einer von uns auf einem Klappstuhl aus durchsichtigem rosa Kunststoff niedergelassen hatte, erging Z. sich in einer Tirade über die Designer. »Seitdem die letzten Nachfolger des Bauhauses das Zeitliche gesegnet haben«, fing er an, »sind diese Leute damit beschäftigt, alle Gebrauchsgegenstände unbrauchbar zu machen. Was sie Kreativität nennen, ist in Wirklichkeit eine Drohung. Zu ihren Triumphen gehören die Abschaffung des Wasserhahns, der Bau von windschiefen Regalen, die Erfindung von Lampen, die nicht wie Lampen aussehen und möglichst wenig Licht geben, und von Sitzgelegenheiten, die nicht nur wackeln, sondern, wie der berühmte Stuhl von Gerrit Rietveld, der menschlichen Anatomie hohnsprechen. Der Mehrwert dieser Objekte besteht darin, daß sie mit den Namen ihrer Urheber verziert sind.«
    Anonym hingegen sei ein Mann geblieben,der von Typographie nicht die leiseste Ahnung hatte, dem es jedoch gelungen war, die Nummernschilder von 58 Millionen Automobilen mit wurstförmigen Lettern zu verunstalten, die er entworfen hatte.
    Man müsse sich die Hölle als einen Ort vorstellen, der ganz und gar von Designern möbliert sei.

76 Obwohl kein Murren zu vernehmen war, sagte Z., sei es ihm nicht entgangen, daß einige von uns mit den Füßen scharrten. »Das verstehe ich; denn vielleicht sollte ich mich nicht mit belanglosem Zeug wie Wasserhähnen und Rasierapparaten abgeben. Aber ich halte mich gern an Kleinigkeiten. Ein Sandkorn kann eine Lawine auslösen, und schon ein Juckreiz kann dem Schlaflosen das Leben vergällen.« Manchmal, schloß Z. aus dieser Betrachtung, sei es wichtiger, ein Taschentuch zur Hand zu haben als die Bibel, zum Beispiel, wenn einem die Nase blute.

77 An einem klaren, warmen Mittwoch meldete sich der Student, der schon öfter Einwände gegen Herrn Z. vorgebracht hatte, von neuem. »Warum kommt bei all dem, was Sie sagen, nicht das Geringste von dem vor, was die Öffentlichkeit beschäftigt? Außenpolitik, Finanzkrise, große und kleine Katastrophen, Bürgerkriege in Afrika und im Nahen Osten. Das alles scheint Sie völlig kaltzulassen!«
    »Sie haben vollkommen recht«, antwortete Z. »Sie machen mir also einen Vorwurf daraus, daß ich auf die Aktualität nicht eingehe.«
    »Allerdings. Ich finde das frivol.«
    »Und trotzdem sind Sie wiedergekommen, obwohl Sie wissen, daß ich die meisten Schlagzeilen ignoriere. Das heißt natürlich nicht, daß ich es besser wüßte als die tüchtigen Leute, die imstande sind, Tag für Tag einen Leitartikel oder einen Kommentar zu liefern.«
    »Und doch tun Sie so, als wären Sie unbeteiligt.«
    »Dazu braucht man kein Marsbewohner zu sein. ›Schiffbruch mit Zuschauer‹, so hat der Philosoph Blumenberg diese Lage genannt. Ich vermute, daß das in aller Regel unsere Position genau beschreibt. Übrigens beobachten wir nicht nur, was der Fall ist, sondern auch einander. Sie zum Beispiel hören mir nicht bloß zu, Sie prüfen, wie ich andere beobachte. Und umgekehrt.«

78 Beim nächsten Mal hatte sich Z. wieder einmal
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