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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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lohnten.
    »Ich bevorzuge einen anderen Ort, der in solchen Anleitungen bestenfalls mit einer Fußnote bedacht wird. Einen luxuriöseren Aufenthalt als den Botanischen Garten kann ich mir nicht vorstellen. Hier können Sie zwischen allen Klimaten der Erde wählen, vom tropischen Regenwald bis zur arktischen Tundra. Zu heiß, zu feucht, zu trocken, zu schwül oder zu frostig? Sie brauchen in den Glashäusern nur eine kleine Tür zu öffnen, um zu finden, was Sie wünschen. Im Freien haben Sie die Wahl zwischen Farnen und Schlingpflanzen, winzigen Orchideen und riesenhaften Sequoias. Die Formenvielfalt ist betäubend. Kein Museum der Welt hat mehr zu bieten. Und das Ganze gibt sich den Anschein einer Diskretion, die sanft verführt, statt aufzutrumpfen. Nur die kleinen Täfelchen mit ihrer altmodischen Schrift verraten die Gelehrsamkeit, die hier zu Hause ist.«
    Es sei kaum vorstellbar, welche Mühe es koste, diesen Kosmos en miniature zu pflanzen, zu wässern, zu düngen, einzudämmen und zu hegen. Den Gärtnern scheine das, worin andere eine Plage sehen, leicht von der Hand zu gehen, als wären auch sie froh, dem Lärm der Außenwelt entronnen zu sein. Überhaupt herrsche im Botanischen Garten eine biblische Stille. Er sei nie überfüllt. Gewiß diene er auch der Belehrung, vielleicht sogar der Pädagogik, aber vor allem sei er ein Zufluchtsort, an dem sich Arme und Reiche, Gläubige und Ungläubige, Zyniker und
Naive gleichermaßen ihrer Phantasie hingeben könnten.
    »Ich habe mich oft gefragt«, schloß Z., »wie es möglich ist, daß eine so utopische Einrichtung, die nicht die geringste Rendite abwirft, in einer sozialdemokratischen, kapitalintensiven, durch und durch kontrollierten Zivilisation überleben kann.«

69 Manchmal habe er Lust, sagte Z., den Aberglauben gegen eine gewisse Sorte von Aufklärern zu verteidigen, die sich ihre Sache zu leicht machten. Solche Leute seien auf eine absolute Kontrolle durch die Vernunft erpicht, die es nicht geben könne. Man täte besser daran, mit der Unwägbarkeit zu rechnen. Nur damit entgehe man der Hybris.
    Die dazu nötigen Mittel liefere der Aberglaube. Man rüste sich mit Talismanen und Amuletten, meide ominöse Vorzeichen und Personen, klopfe auf Holz und hüte sich zu sagen, es könne einem kein Unglück widerfahren. Umgekehrt wünsche man einander eine gute Reise, gratuliere zum Geburtstag und stoße auf ein gutes neues Jahr an. Den aufgeklärten Menschen möchte er sehen, dem solche Praktiken fremd wären.

70 »Woher kommt es«, fragte sich Z., »daß die Dummheit unbesiegbar ist? Ihre Genese stellt die Evolutionsbiologie vor ein Rätsel. Ihre verheerenden Wirkungen liegen auf der Hand, aber warum hat die Selektion nicht dafür gesorgt, daß sie ausstirbt, wenn sie so viel Schaden anrichtet? Das kann nur daran liegen, daß sie auch Überlebensvorteile mit sich bringt. Es gibt viele Situationen, in denen die Fähigkeit, sich dumm zu stellen, von Nutzen ist. Ein klassisches Beispiel hierfür bietet Jaroslav Hašeks genialer Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk . Er zeigt, daß die Grenze zwischen der echten Stroh-, Erz- und Saudummheit und einer gut getarnten Durchtriebenheit schwerer zu ziehen ist, als die Neunmalklugen glauben.«

71 Ab und zu stimmte Z. ein Loblied auf die Routine an. Sie sei ebenso langweilig wie unentbehrlich. Der schwer erträgliche Kierkegaard habe der Wiederholung sogar eine religiöse Bedeutung zugeschrieben.
    So weit wolle er nicht gehen. Denn es scheine doch das eine oder andere Terrain zu geben, auf dem die Routine, ebenso wie die Demokratie, nichts zu suchen habe: zum Beispiel die Kunst.

72 Es sei zum Erbarmen, bemerkte Z., wie die approbierten Deuter den historischen ebenso wie den Neo-Avantgarden hinterherhechelten, und zwar um so eifriger, je weniger es zu deuten gebe. Die Regalmeter von Kommentaren zu Malewitsch, Duchamps et al. wüchsen ebenso ungebremst an wie die Zahl ihrer nachwachsenden Epigonen. Daß die polemische Energie dieser »Arbeiten« längst erloschen sei, daß sich ihre Erzeuger längst im globalen Kunstmarkt beschaulich und teuer eingerichtet hätten, spiele bei diesem heißen Bemühen keine Rolle. Die Kommentatoren seien offenbar überzeugt davon, daß die Kunst nie zuviel Hingabe verdiene. Kein philosophisches, theologisches, kabbalistische Argument bleibe auf diesem Marktplatz ungenutzt. Je weniger es zu sehen gebe, desto schwerer hätten die Interpreten an ihrer Verantwortung zu tragen.

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