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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition)
Autoren: Björn Springorum
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sollte sie der Schulbibliothek und diesem wunderschönen alten Gebäude mal einen Besuch abstatten?
    »Endlich? Machst du Witze?« Sophie holte sie zurück in die Gegenwart.
    Ganz im Gegensatz zu Emily mochte Sophie die kalte Jahreszeit nicht besonders. Wie zur Bestätigung des Gesagten zog sie ihren Mantel enger um sich und bibberte demonstrativ.
    »Du und Jake, ihr werdet euch echt mögen. Er macht neuerdings einen auf melancholischen Romantiker und hat sich schon am letzten Schultag vor den Sommerferien auf den Herbst gefreut. Du weißt schon, Melancholie, Memento mori und so was …«
    »Wieso habe ich ihn eigentlich noch nicht kennengelernt?«, fiel Emily ihr ins Wort. »Wolltest du ihn mir nicht längst vorgestellt haben?«
    »Scheinst es ja ganz schön eilig zu haben.« Sophie grinste schelmisch. »Er kommt erst nächstes Wochenende zurück. Der glückliche Mistkerl darf länger Ferien machen! Ausdrückliche Erlaubnis des Direktors, weil er seine Eltern so selten sieht. Aber immerhin schafft er es zur Horrornacht.«
    Oh ja, die Horrornacht. Sophie lag ihr seit Tagen damit in den Ohren. Sie markierte bereits Anfang September den Beginn einer minutiös durchgeplanten Halloweenzeit, die auch die obligatorischen Kürbisschnitzereien miteinbeziehen würde. Wieso man schon zwei Monate vorher derart Feuer und Flamme dafür sein konnte, hatte sie noch nicht verstanden. Möglicherweise lag es daran, dass sich Sophie selten auf etwas wirklich freute. In dieser Hinsicht waren sie sich sehr ähnlich.
    Ohne große Begeisterung und überwiegend aus gutem Willen hatte Emily eingewilligt, diesen Abend mit ihr und Jake bei dem kleinen Horrorfestival im Kino zu verbringen. Noch fehlte die Erlaubnis ihrer Eltern, die sich Sophie mit Emilys Zusage vorzeitig sichern wollte. Rasch war Emily bei ihren neuen Eltern in den Ruf gekommen, verantwortungsbewusst und ungewöhnlich reif zu sein, was Sophie natürlich für sich zu nutzen wusste. Dafür waren Schwestern ja schließlich da.
    »Du und diese dämliche Horrornacht«, entfuhr es Emily schärfer als beabsichtigt. Sophies gekränkter Gesichtsausdruck entwaffnete sie sofort. Mist, darin war ihre Schwester wirklich gut. Wieso war sie nur so gereizt? Dass man sie schon in ihrer ersten Woche als Freak abgestempelt hatte, konnte ihr doch nur recht sein. Es garantierte ihr immerhin, in Ruhe gelassen zu werden.
    »Ich glaube, ich war einfach zu lange nicht von Büchern umgeben. Meinst du, es ist in Ordnung, wenn ich mich noch eine Weile in der Bibliothek umsehe und den Bus nach Hause nehme?«
    Ihre Schwester verzog das Gesicht. Dann fuhr endlich ihr Vater auf dem Schulhof vor. Selbst bei geschlossenen Fenstern waren dramatische Bläser und donnernde Pauken zu hören.
    »Das klingt nach Wagner«, stöhnte Sophie. »Der Schlimmste von allen …« Grinsend fügte sie hinzu: »Gib’s zu, du willst nur nicht bei diesem Krach nach Hause fahren«, sagte sie beim Einsteigen.
    Emily machte sich gar nicht erst die Mühe, zu widersprechen.
    Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als Emily das eindrucksvolle alte Gebäude betrat. So spät am Nachmittag war die Bibliothek fast menschenleer, nur hier und da saßen einsame Schüler. Die golden schimmernden Lampen an den Arbeitstischen wirkten wie kleine Inseln im Halbdunkel des Lesesaals.
    Sie genoss das Geräusch ihrer Schritte auf dem gebohnerten Parkett. Es sorgte für ein Gefühl von Behaglichkeit und Zugehörigkeit, das durch die rund um sie aufragenden Bücherregale noch verstärkt wurde. Einen Moment lang stand sie nur da, schloss die Augen und genoss diese ganz besondere Stille der Bibliothek, die nur von gelegentlichen Blättergeräuschen durchweht wurde. Tief sog sie den einzigartigen Geruch alter Bücher ein, dann nahm sie mit wachsender Begeisterung die vielen Regale unter die Lupe, kletterte Leitern hinauf, blätterte in Büchern und entschied sich nach einiger Zeit des seligen Herumstöberns für ein dickes Exemplar mit britischen Dichtern der Romantik. Die Ära König Williams, wie sie gequält feststellte.
    In einem der Lesesessel am Fenster machte sie es sich gemütlich und war bereits nach wenigen Minuten derart in die Lektüre vertieft, dass sie gar nicht wahrnahm, wie sich der Lesesaal leerte. Eine Tischlampe nach der anderen erlosch, bis Emilys Sessel der einzige beleuchtete Platz in der Dunkelheit war.
    »Kleine Miss«, riss sie eine brüchige Stimme aus einer besonders schönen Stelle bei ihrem Lieblingsautor William Blake. Der
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