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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition)
Autoren: Björn Springorum
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Stunde war Mr Randalls Interesse geweckt. »Wie siehst du das?«
    Doch Emily nahm den Lehrer kaum wahr. Sie wusste selbst nicht, was sie da gerade tat. »Er hat uns verfolgt für das, was wir waren, und das ganze Königreich wusste nichts davon! Er hat uns herausgelockt, auf dem Land zusammengetrieben wie Vieh und einen nach dem anderen zur Strecke gebracht! Die Worte William und liberal sollten niemals zusammen genannt werden!«
    Sophie traute ihren Augen und Ohren nicht: Wie ein böser Rachegeist stand Emily mitten im totenstillen Klassenzimmer. Der Blick lodernd, die Stimme durchdringend und verächtlich wie bei einem geifernden Ankläger, redete sie sich zunehmend in Rage. »So viele mussten sterben, obgleich er uns Schutz zugesichert hatte. Leere Worte eines Lügners, nichts weiter. Und dennoch feierte ihn das Volk als Heiligen, als Friedensbringer und Erlöser der Armen. Dabei war er nur ein grausamer Mörder!«
    Sie erschlaffte wie ein undichter Ballon und sank auf ihren Stuhl zurück.
    Wie aus tiefer Hypnose kam sie langsam zu sich. Ein Schleier fiel von ihren Augen, und sie blickte verwirrt in die sprachlosen Gesichter ihrer neuen Mitschüler.
    Wieso starrten sie alle an? Hatte sie gerade etwas gesagt? Über den letzten Minuten lag ein nebliger Film, nur vage konnte sie sich an geschriene Worte und heftige Emotionen erinnern.
    »Was war das?«, formte Sophie lautlose Worte. So hatte sie sich ihren Plan, mithilfe ihrer hübschen Schwester mehr aufzufallen, nicht vorgestellt. Atemlose Stille herrschte in den Reihen. Auch Mr Randall, sonst ein ruhender Pol in kniffligen Situationen, war eindeutig überfordert.
    »Tja«, durchbrach er die nagende Stille und versuchte sich hilflos an einem halbherzigen Scherz, »die Theatergruppe kann sich in diesem Jahr wohl auf talentierte Verstärkung freuen, was?«
    Doch bei einem Blick in die Gesichter ihrer neuen Mitschüler wusste Emily, dass dieser Auftritt nicht durch einen kleinen Witz vergessen werden würde.



2
    Es war unmöglich zu sagen, wie viele anonyme Pubs es unter dem bleigrauen Himmel Londons gab. Niemand wusste ganz genau, welche Läden ohne Erlaubnis geöffnet und welche Läden urplötzlich dichtgemacht hatten, obwohl sie eigentlich noch geöffnet sein dürften.
    Aus diesem Grund liebte Balthasar diese Stadt: Man konnte jedes Mal in einen anderen Pub gehen und würde sie doch nie alle kennen. Anders formuliert: Man wurde von Gästen oder Wirten nie zweimal gesehen, wenn man es nicht wollte. Und Balthasar wollte es nicht.
    Er hängte seinen nassen Mantel an die Garderobe, stellte seinen Spazierstock daneben und gab dem Wirt, einem nervösen Kerl mit schütterem Haar und dicker Brille, einen Wink. Noch bevor er sich zu dem blonden Mann an einen der niedrigen Tische abseits der Bar gesetzt hatte, wartete ein Glas dunklen Rotweins auf ihn.
    »Wie machst du das nur?«, fragte ihn seine Verabredung anstelle einer Begrüßung.
    »Hallo, Aaron, ich freue mich auch, dich zu sehen«, entgegnete er trocken.
    »Für lästige Konversationspflichten dieser Art sind wir beide zu alt. Also? Kannst du mir das mal erklären? Wieso scheint jeder gottverdammte Wirt in dieser gottverdammten Stadt zu wissen, dass du bevorzugt gottverdammten Rotwein trinkst?«
    Balthasar schnalzte mit der Zunge. »Aber, aber. Du wirst doch auf deine alten Tage nicht mit dem Fluchen anfangen. Nennen wir es einfach Charisma. Ausstrahlung, Auftreten, Körperhaltung, du verstehst?«
    Aaron verstand es nicht. Er wollte nicht einsehen, weshalb es ihm schon lange nicht mehr gelang, Menschen derart schnell in seinen Bann zu ziehen, während Balthasar mit jedem Treffen besser darin wurde.
    »Hängt wohl mit deinem kitschigen Auftreten zusammen«, spottete er daher. »Die düstere Kleidung und dieser völlig übertriebene Spazierstock schreien geradezu nach schwerem, dunklem Wein.«
    »So wie meine Kehle.« Ein zynisches Lächeln umspielte Balthasars Lippen, als er sein Glas hob. »Auf uns und die Menschheit. Möge sie niemals aussterben!«, intonierte er mit einer vollen Stimme, die jeden Schauspieler neidisch gemacht hätte.
    Er genehmigte sich einen tiefen Schluck und ließ den blutroten Tropfen genüsslich wirken.
    Ganz anders Aaron. Seit sich die beiden kannten – und ihre Bekanntschaft hatte Weltreiche kommen und gehen sehen –, hatte er sämtliche Trends mitgemacht und war für jede neue Erfindung immer genau so lange zu begeistern gewesen, bis sie von einer noch besseren abgelöst wurde.
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