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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Autoren: Johanna Spyri
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ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
    “Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar weh.”
    Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: “Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh, wie er sich fürchtet!”
    “Er verdient’s”, schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: “Du darfst ihm nichts tun, es tut ihm weh, lass ihn los!”
    Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute niederhielt. “So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käse gibst”, sagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
    “Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht”, sagte Heidi zustimmend, “und Brot gebe ich dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Geiß.”
    “Es ist mir gleich”, bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde hinein.—
    So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie: “Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh! Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!”
    “Es war immer so”, sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an seiner Rute fort, “aber es ist kein Feuer.”
    “Was ist es denn?”, rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schön war’s auf allen Seiten. “Was ist es, Peter, was ist es?”, rief Heidi wieder.
    “Es kommt von selbst so”, erklärte Peter.
    “O sieh, sieh”, rief Heidi in großer Aufregung, “auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?”
    “Berge heißen nicht”, erwiderte dieser.
    “O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh! Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!” Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge wirklich alles zu Ende.
    “Es ist morgen wieder so”, erklärte Peter. “Steh auf, nun müssen wir heim.”
    Die Geißen wurden herbeigepfiffen und—gerufen und die Heimfahrt angetreten.
    “Ist’s alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?”, fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
    “Meistens”, gab dieser zur Antwort.
    “Aber gewiss morgen wieder?”, wollte es noch wissen.
    “Ja, ja,
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