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Heaven - Stadt der Feen

Heaven - Stadt der Feen

Titel: Heaven - Stadt der Feen
Autoren: Christoph Marzi
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wohnt mein Kunde«, sagte er und tippte seinen Rucksack an. »Was dagegen, wenn ich kurz Walter Scott abgebe? Dann bringe ich dich nach Hause.«
    Heaven schaute sich unruhig um. »Kann ich mitkommen?«, fragte sie.
    »Nur zu!« David ging voran. Er sprang die Stufen zum Eingang von Nr. 18 empor und klingelte.
    Heaven stand hinter ihm und spähte vorsichtig die Straße hinauf und hinab.
    »Keine Angst. Die Typen sind weg«, sagte David beruhigend und merkte selbst, wie merkwürdig seine Worte klangen. Was tat er hier eigentlich? Glaubte er selbst schon andie Geschichte von zwei bösen Männern, die durch die Gegend liefen und Herzen klauten?
    Natürlich nicht. Aber er hatte plötzlich das Gefühl gehabt, irgendetwas sagen zu müssen, was sie trösten würde. Denn Trost schien das Einzige zu sein, was ihr jetzt helfen konnte.
    »Da kommt jemand.« Sie deutete zur Tür.
    In der Tat, nur Sekunden später öffnete Mr Merryweather und stand wie ein Relikt aus
Große Erwartungen
im Türrahmen. Er trug einen langen Hausmantel mit überaus hässlichem Muster und karierte Pantoffeln. Die Meerschaumpfeife, die er in der Hand hielt, qualmte vor sich hin.
    »Ah, David Pettyfer«, begrüßte er David überschwänglich und bedeutete ihm einzutreten. Dem Mädchen warf er wachsame Blicke zu. »Und wer sind Sie, junge Dame?«
    »Ich bin Davids Freundin«, sagte Heaven schnell.
    David schwieg. Spontan war sie ja, das musste man ihr lassen.
    »Heaven Mirrlees.«
    Zum ersten Mal nannte sie ihren vollen Namen. Er passte zu ihr.
    Mr Merryweather lächelte und kraulte sich den Backenbart. »Du hast einen guten Geschmack, Junge.« Er winkte Heaven hinein.
    »So ist es weniger auffällig«, raunte sie David im Vorbeigehen zu.
    David fragte sich, was daran auffällig sein sollte, dass ihn ein Mädchen begleitete, aber da war sie auch schon an ihm vorbei und lief hinter Mr Merryweather her in den Salon.
    Klein war das Zimmer und gemütlich. Es roch nach warmemTabak und alten Büchern, nach Druckerschwärze an den Fingern und ausgelesenen Zeitungen, die auf dem Tisch lagen und auf denen sich Teekannen und Tassen und die Reste von Gebäck stapelten. Hohe Regale standen an den Wänden mit der bunt gemusterten Tapete zwischen der Holzvertäfelung. Um den Tisch herum: Ohrensessel und eine uralte Stehlampe mit Bommeln am Lampenschirm.
    David stellte seinen Rucksack auf den Boden, öffnete ihn und kramte darin herum. Dann beförderte er äußerst vorsichtig eine hölzerne Schatulle hervor. »Da ist er«, verkündete er feierlich, öffnete die Schatulle und nahm das Buch heraus. »Walter Scott: Die Braut von Lammermoor.«
    Mr Merryweathers Augen leuchteten auf und in diesem Moment konnte man sich vorstellen, wie er als kleiner Junge ausgesehen hatte. »Endlich, endlich«, flüsterte er voller Ehrfurcht.
    Heaven beobachtete ihn genau.
    Mr Merryweather nahm das Buch in seine Hände, schlug es auf und ließ seinen Finger über die erste Seite fahren. Er roch an dem Papier und blätterte weiter.
    »Ist es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?«, fragte David höflich.
    Mr Merryweather lachte. »Es ist tatsächlich die Ausgabe von Firmin-Didot. Unglaublich.«
    David schloss den Rucksack. Dann stellte er die Schatulle auf den Tisch. »Dann gefällt es Ihnen also?«
    »Gefallen?« Mr Merryweather lachte glucksend. »Es ist wunderschön.« Er schaute zu Heaven. »Ist es doch, oder?«
    »Es sieht verletzlich aus«, sagte Heaven ernst.
    Mr Merryweather streichelte über den Buchdeckel. »Eserinnert mich an meine Frau«, sagte er leise. Er ging zum Fenster und sah für einen Moment schweigend auf die Straße. Dann drehte er sich wieder zu ihnen um. »Ihr müsst wissen, ich habe Mrs Merryweather in einem Theater kennengelernt, drüben in Islington.« Seine Stimme ging in einen gemütlichen Tonfall über. »Ich war sofort verliebt in sie. Und als ich sie in der Pause ansprach, da brauchte ich fast eine Viertelstunde, um herauszufinden, dass sie blind war. Sie konnte das sehr gut verstecken.« Während er sprach, betrachtete er unentwegt das Buch in seiner Hand. »Sie hat Bücher geliebt.« Er seufzte, hielt inne. »Das ist jetzt lange her. Lange, lange Zeit. Mrs Merryweather verstarb, als Mrs Thatcher ihre Reden im Parlament schwang.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Wie schnell die Zeit doch vergeht.« Er lachte versonnen. »Wie auch immer, diese Geschichte hier habe ich ihr unzählige Male vorgelesen.«
    »Das ganze Buch?«, staunte Heaven.
    Er zwinkerte ihr zu.
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