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Havelsymphonie (German Edition)

Havelsymphonie (German Edition)

Titel: Havelsymphonie (German Edition)
Autoren: Jean Wiersch
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faltiger Stirn zu Manzetti.
    „Was haben Sie?“, fragte der, nun noch neugieriger geworden.
    „Fassen Sie mal die Hand an“, forderte Bremer nicht ohne aufsteigende Erregung, denn er wusste nur zu gut, was er dem Hauptkommissar damit zumutete. Aber seiner Meinung nach hatte Manzetti sich das schon allein wegen seiner ruppigen Begrüßung verdient, als er am Tatort erschienen war.
    Manzetti schob unterdessen seine Hand ganz behutsam nach vorne, so wie es kleine Kinder tun, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Hund streicheln sollen, der viel größer als sie selbst ist. Dann berührte er zögerlich den blassen Handrücken der toten Frau. Blitzartig zuckte er zurück. „Die ist ja eiskalt.“
    „Richtig“, lobte Bremer und versteckte die Hand der Toten zwischen seinen, ganz so, als würde er sie wärmen wollen.
    Manzetti setzte sich wieder in den Stuhl, irgendetwas trieb sich plötzlich in seinem Kopf herum. Es war einer von den Gedanken, die er für gewöhnlich nicht sofort beschreiben konnte, von denen er aber glaubte, dass sie nicht unwichtig waren. Es dauerte eine Weile, bis er diese Inspiration in Worte fassen konnte. Nach einigen Sekunden der Stille und einem tiefen Seufzer sprach er mehr zu sich, als zu den anderen. „Che gelida manina.“
    „Was?“ Sonja sah Hilfe suchend erst zu ihrem Chef und dann zu Dr. Bremer.
    Manzetti erhob sich und legte seinen Arm um ihre Schulter: „Wie eiskalt ist dies Händchen“, sang er ganz leise und offenbar mit einer Melodie, die ihm gerade eingefallen war.
    „Und was soll das bedeuten?“ Sonja war nun offensichtlich völlig verwirrt.
    „Puccini. La Bohème. Che gelida manina ist die wohl berühmteste Arie aus dieser Oper. Kennst du die etwa nicht?“ Manzetti zog seine junge Kollegin noch dichter an sich heran.
    Sonja schüttelte den Kopf. „Muss ich das?“
    „Natürlich nicht“, räumte er ein, ließ sie schließlich los und begann dann seine Erklärung. „In diesem Musikstück beschreibt Puccini das Künstlermilieu im Paris des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts mit ihrem ungezwungenen Lebensstil, die Bohème. Unter ihnen waren Maler, Dichter, Bildhauer und auch Musiker, deren Dasein oft so etwas wie ein täglicher Geniestreich war, ein Überlebenskampf.“
    „Heute würde man wohl sagen, dass sie von der Hand in den Mund gelebt haben“, ergänzte Bremer, der kurz zu den beiden Kommissaren aufgesehen hatte.
    „Und was hat das mit dieser Frau zu tun?“, warf Sonja ein und deutete mit dem Kinn zu der Toten. Sie konnte sich noch immer nicht erklären, worauf Manzetti anzuspielen versuchte.
    „Mit der Toten?“, fragte er. „Ach so. Zu dieser Bohème gehörte auch ein Dichter mit dem schönen Namen Rodolfo, der sich eine Behausung mit dem Maler Marcello teilte. Bei ihm lernte Rodolfo die Stickerin Mimi kennen und verliebte sich in sie.“
    Sonja hörte zwar weiter zu, sah aber inzwischen mit anderen Augen zum Tisch. Hatte sich die unbekannte Tote etwa zu Lebzeiten unglücklich verliebt? War auch sie an einen Künstler geraten und musste die Liaison schließlich mit dem Leben bezahlen? Unmöglich war das nicht, schließlich lag sie vor dem Theater.
    „Und dann hat dieser Rodolfo die Stickerin getötet“, stellte Sonja schließlich fest.
    „Nein“, widersprach Bremer aufs Heftigste. „Mimi war an Schwindsucht erkrankt, woran sie dann auch starb. Und wegen ihrer Erkrankung hatte sie immer kalte Hände. Che gelida manina eben.“
    „Und deshalb steckte sie ihre Hände in einen Muff?“ Sonja formulierte es zwar wie ein Frage, aber eigentlich klang es eher wie eine Erklärung.
    „Genau. Deshalb steckte sie ihre Hände in einen Muff“, bestätigte Manzetti. „Das hier sieht auf den ersten Blick fast genauso aus. Mimi liegt mit Händen in einem Muff auf einem improvisierten Diwan, noch dazu neben unserem Theater. Ihr fehlt nur noch das rote Häubchen.“
    Sonja fragte nicht weiter, denn sie glaubte, dass sie zwar nicht jedes Detail begriffen hatte, aber aus einer gewissen Intuition heraus im Moment ihrem Chef geistig folgen konnte. Sie meinte zu wissen, was er wollte, denn Täter, die ein Verbrechen regelrecht in Szene setzten, wählten die Orte ihrer Inszenierung natürlich nicht zufällig. Vielmehr verbanden sie mit ihnen etwas, sie hatten gar eine Beziehung zu dem Ort oder wollten damit wenigstens etwas zum Ausdruck bringen. Das konnte man gut und gerne mit einer Demonstration vergleichen, bei der sich auch niemand vor einem Bäckergeschäft
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