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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee
Autoren: Bastei Lübbe
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Impuls heraus wollte er sich wieder die Zeit ansagen lassen. Aber dann fragte er sich, warum. Verzweiflung packte ihn. Jette!, schrie sein Herz. Er sah sie vor sich, wie sie von einer großen Welle weggerissen wurde, und er konnte sie nicht festhalten, konnte sie nicht retten. Erschöpft sank er auf den Boden und blieb dort sitzen.
    Das Handy klingelte schon wieder. Benno wollte wissen, wo er sei. Jonah hatte noch nie einen Menschen so fluchenhören. Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Erstaunlich, dass man hier überhaupt telefonieren konnte, dachte Jonah. Und jetzt? Er hatte keine Idee mehr. »Du hast verloren, Alter«, sagte er leise. Er stand auf, schleppte sich die Treppe hoch und öffnete die Kellertür.
    Sofort warf er sie wieder zu und hustete. Der Rauch hatte den Flur erreicht. Aber mit einem nassen Tuch vor dem Gesicht würde er wohl noch durchkommen. Heiß war es nicht gewesen. Das Feuer schien sich noch nicht durch die Tür des Arbeitszimmers gefressen zu haben.
    Andererseits konnte ihn niemand zwingen hinauszulaufen. Das war das Gute im Leben. Bestimmte Entscheidungen konnte man selbst treffen. Er lief die Treppe wieder hinunter. Jetzt, beim zweiten Mal, erschien ihm das Kellergewölbe wie eine Gruft, in der man die Toten beerdigt. Er betrat wieder den Raum mit den Heizkesseln und stellte sich vor den neuen. Er umfasste den Kessel mit beiden Händen, als wolle er ihn umarmen. Wie eine stählerne Geliebte.
    Erneut strich er mit den Händen über die glatte Oberfläche, legte sein heißes Gesicht an den kühlen Stahl, fuhr mit den Fingern in die kleine Öffnung hinein und bekam im Innern einen Hebel zu fassen. Er drückte das Ding nach oben. Dann nach unten. Mit einem leisen Pling schwang der Kessel auf. Seine Vorderseite öffnete sich wie eine Tür. Jonah streckte seine Hände ins Innere. Es war leer. Er tastete sich weiter und kam sich vor wie in einer Rakete. Fehlte nur noch, dass man ihn ins Weltall schoss. Auf dem Boden lag etwas. Eine Strickleiter. Er schob sie beiseite und tastete sich weiter. Der Kessel hatte keinen eigenen Boden. Jemand musste ihn herausgenommen haben. Unter ihm war der Kellerboden – mit einer Luke. Sie war durch ein Vorhängeschloss gesichert. Jonah tastete die Innenwände des Kessels ab. Da war der Haken mit dem Schlüssel. Er sperrte die Luke auf.
    »Jette?«, fragte er in die Tiefe.
    Keine Antwort.
    Aber sie war da.
    Er hörte sie atmen.
    Es gab zwei Haken, an denen man die Strickleiter aufhängen konnte. Jonah arbeitete schnell und konzentriert. Die Zeit lief wieder. Vorsichtig stieg er hinunter.
    »Jette?«, fragte er.
    »Ja?«
    Sie lag auf einer Matratze.
    Er setzte sich neben sie und legte seine Hand auf ihr Gesicht. Sie war heiß und verschwitzt. Ihr Atem ging schnell.
    »Wir müssen gehen.«
    »Ja.«
    Er nahm ihre Hand. Sie war voller Pusteln. »Ich helfe dir.«
    Aber sie konnte nicht aufstehen.
    Er zog sie hoch und stellte sie an die Wand. Sie taumelte. »Ich trage dich«, sagte er. »Halt dich an meinem Rücken fest. Schnell.« Er bückte sich und stand mit ihr auf dem Rücken wieder auf. Sie trug immer noch den Hosenrock und klammerte sich an ihm fest wie ein Affenbaby. »Nicht am Hals«, sagte Jonah röchelnd. Er kletterte mit ihr zusammen die Leiter hoch. Sie riss nicht. Aber die Öffnung oben war zu klein, um gemeinsam hindurchzuklettern.
    »Du zuerst«, sagte Jonah, doch sie rührte sich nicht. »Du musst allein weiterklettern. Über mich drüber, beeil dich«, befahl er. Aber Jette reagierte nicht. »Was brauchst du, damit du durch die Luke klettern kannst?«, fragte er.
    »Brausebonbons«, sagte sie schwach.
    Jonah griff in seine Jackentasche, zog zwei Brausebonbons hervor und gab sie ihr. Es war nicht einfach, mit ihr auf dem Rücken.
    »Woher hast du die?«, wimmerte sie. Dann kamen langsam und umständlich mehrere Sätze auf einmal. »Ich hab nicht gedacht, dass du Brausebonbons dabeihast, denn dann hätte ich etwas anderes gesagt. Ich kann nämlich nicht klettern. Ich hab keine Kraft mehr.« Und mit diesen Worten ließ sie Jonah los und hievte sich durch die Luke auf den Boden über ihr. Er musste sie noch von der Öffnung wegstoßen. Kurz darauf hatte auch er es geschafft.
    Sie kauerte ihm gegenüber auf dem Boden.
    »Ich hab dich gesucht«, sagte er leise.
    »Und gefunden«, sagte sie. Es klang matt und elend.
    Jonah war zum Heulen zumute. Was hatten sie mit ihr gemacht? Er traute sich nicht zu fragen.
    »Es geht mir gut«, sagte sie, als hätte sie
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