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Hana

Hana

Titel: Hana
Autoren: Lauren Oliver
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ganz trostlos und nackt aus, deshalb habe ich es wieder drangeknüpft.
    Es ist kurz nach elf und die Luft flirrt vor Hitze. Sogar die Möwen scheinen sich langsamer zu bewegen; sie schweben fast reglos über den wolkenlosen Himmel, als hingen sie in flüssigem Blau. Sobald ich das West End mit seinem schützenden Mantel aus alten Eichen und schattigen, engen Straßen verlassen habe, wird es fast unerträglich heiß, gnadenlos, als würde die Sonne durch eine riesige gläserne Linse auf Portland scheinen.
    Ich mache absichtlich einen Umweg zum Gouverneur, der alten Statue, die mitten auf einem kopfsteingepflasterten Platz in der Nähe der University of Portland steht, wo Lena im Herbst anfangen wird. Wir sind früher regelmäßig am Gouverneur vorbeigelaufen und haben uns angewöhnt, hochzuspringen und gegen seine ausgestreckte Hand zu klatschen. Ich habe mir dabei immer etwas gewünscht, und jetzt steige ich zwar nicht vom Rad, um mit ihm abzuklatschen, aber ich strecke einen Zeh aus und streife über den Sockel der Statue, damit es mir Glück bringt. Ich wünsche mir … , denke ich, aber weiter komme ich nicht. Ich weiß gar nicht genau, was ich mir wünschen soll. Immun zu sein oder nicht, dass sich die Dinge verändern oder bleiben, wie sie sind.
    Die Fahrt zu Lenas Haus dauert länger als sonst. Auf der Congress Street ist ein Müllauto liegen geblieben und die Polizei leitet den Verkehr über die Chestnut Street und die Cumberland Street um. Als ich Lenas Straße erreiche, schwitze ich und bleibe schräg gegenüber von ihrem Haus stehen, um an einem Brunnen etwas zu trinken und mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Neben dem Brunnen ist eine Bushaltestelle, an der ein Schild die Zeiten der Ausgangssperre verkündet – So bis Do ab 21:00; Fr und Sa ab 21:30  –, und als ich mein Fahrrad abstellen will, sehe ich, dass die verschmierten Glaswände des Wartehäuschens mit Flugblättern vollgeklebt sind. Sie sind alle identisch und zeigen das Stadtwappen von Portland über fetter schwarzer Schrift.
    Die Sicherheit des Einzelnen ist die Aufgabe aller.
    Halten Sie Augen und Ohren offen.
    Melden Sie der Abteilung für Hygiene und Sicherheit alle verdächtigen Aktivitäten.
    Wenn Sie etwas sehen, schweigen Sie nicht.
    500 $ Belohnung für Meldungen verbotener oder ungenehmigter Aktivitäten.
    Ich bleibe einen Moment stehen und lese die Worte immer wieder, als könnten sie plötzlich etwas anderes bedeuten. Natürlich haben Leute schon immer verdächtiges Verhalten gemeldet, aber dafür gab es nie eine Belohnung. Das wird es uns schwerer machen, viel schwerer – mir, Steve, uns allen. Fünfhundert Dollar sind heutzutage eine Menge Geld – mehr, als die meisten Leute in einer Woche verdienen.
    Eine Tür knallt zu und ich fahre zusammen und stoße beinahe mein Fahrrad um. Jetzt erst fällt mir auf, dass die ganze Straße mit Flugblättern plakatiert ist. Sie hängen an Gartentoren und Briefkästen, kleben an kaputten Straßenlaternen und Mülltonnen aus Metall.
    Auf Lenas Veranda bewegt sich etwas. Plötzlich taucht sie in einem übergroßen T-Shirt vom Stop-N-Save , dem Delikatessengeschäft ihres Onkels, auf. Offenbar ist sie auf dem Weg zur Arbeit. Sie bleibt kurz stehen und sieht die Straße entlang – ich habe den Eindruck, ihr Blick bleibt an mir hängen, und hebe zögernd die Hand, um zu winken, aber ihre Augen wandern weiter, streifen oberhalb meines Kopfs vorbei und gleiten dann weiter in die andere Richtung.
    Ich will schon nach ihr rufen, als ihre Großcousine Grace die Betontreppe heruntergerannt kommt. Lena lacht und streckt den Arm aus, damit Grace nicht so schnell rennt. Lena sieht glücklich aus, unbesorgt. Ich werde plötzlich von Zweifeln gepackt: Mir geht auf, dass sie mich vielleicht gar nicht vermisst. Vielleicht hat sie gar nicht an mich gedacht; vielleicht ist sie vollkommen zufrieden damit, nicht mit mir zu sprechen.
    Schließlich hat sie nicht versucht, mich anzurufen.
    Als Lena mit der hüpfenden Grace neben sich auf die Straße tritt, drehe ich mich schnell um und steige wieder aufs Fahrrad. Jetzt habe ich es eilig, hier wegzukommen. Ich will nicht, dass sie mich sieht. Der Wind frischt auf, raschelt durch all diese Flugblätter, die Appelle zur Sicherheit; die Flugblätter heben und senken sich gleichzeitig, wie tausend Leute, die weiße Taschentücher schwenken, wie tausend Leute, die zum Abschied winken.

vier
    D
ie Flugblätter sind erst der Anfang. Mir fällt auf, dass mehr Aufseher
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