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Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Titel: Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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aus der Verankerung und zwängt sich mühsam durch die entstandene Lücke. Eine schmale Treppe führt nach oben ins Dunkle. Das Holz knarrt unter seinem Gewicht. Er ertastet ein Loch in der Decke. Vorsichtig hebt er seinen Kopf über die Kante und blickt in einen großen Saal. Ganz am anderen Ende dringt ein schwaches, flackerndes Licht durch die Ritzen eines mächtigen Samtvorhangs.
    Ein Kino, durchzuckt es ihn. Nein, ein Marionettentheater, genau, das kann nur das Marionettentheater aus Storms ›Pole Poppenspäler‹ sein.
    Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er kann die purpurrote Farbe des Stoffes erkennen.
    »Komm herbei, Hajo Peters, komm herbei!«, krächzt eine unwirkliche Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Trotzdem wird er von ihr willenlos angezogen.
    »Ja, Peters, hierher! Hierher du erbärmlicher Feigling!«
    Schrecken und Neugier kämpfen in ihm. Jetzt steht er direkt vor dem Vorhang, genau in der Mitte, wo sich beide Hälften treffen. Seine Hände dringen durch den Spalt und teilen ihn. Vor ihm, auf Augenhöhe, baumelt an feinen Schnüren aufgehängt eine Holzfigur. Sie trägt einen gelben Nankinganzug und ihr Kopf ist vornüber gesunken. Die Nase, die groß wie eine Wurst ist, liegt auf der Brust.
    »Der Kasperl!«, stammelt er. Da hebt sich ruckartig der Kopf der Marionette.
    »Freili, der is allimal dabei!«
    Die Figur klappt ihren hölzernen Mund auf und zu und das Holz knackt dabei wie eine alte Eule mit ihren Kinnbackenknochen.
    »Bist also kommen um auch noch deinen alten Freund zu bestehlen? Peters du elender Dieb!«
    In Panik schließt er den Spalt. Sein einziger Gedanke ist Flucht. Doch bevor er sich umdrehen kann, geht ein helles Licht an. Im selben Moment öffnet sich der Vorhang und die Vorstellung beginnt mit einem Gong. Der Kasperle auf der Bühne wirkt auf einmal noch größer und lebendiger. Unter seinem rechten Arm klemmen die Pappdeckel mit den Romanblättern des Theodor Storms.
    »Wie kommst du Wicht an mein Eigentum!?«, schreit er zornig und stürzt sich auf die Holzfigur, um ihr die Schriftstücke zu entreißen. Doch Kasperles Arm ist hart wie Eisen. Er zerrt aus Leibeskräften an der Umklammerung. Auf einmal tut es einen leisen Krach im Innern der Figur.
    »Mörder!«, kreischt eine Frauenstimme hinter ihm. Entsetzt fährt er herum. Vor ihm steht Edda und hält ihm eine Pistole unter die Nase.
    »Woher hast du die Waffe?«
    »Aus deiner Schublade, unten im Laden!«
    »Edda, so lass dir doch alles erklären!«
    »Was willst du noch erklären, Hajo? Einmal Mörder, immer Mörder!«
    »Nein, das ist doch alles so nicht wahr! Neiiiin!!!«
    Schweißgebadet schießt er im Bett hoch. Seine Augen tasten durch den dunklen Raum. Keine Edda, kein Kasper, kein Theater, nur sein Schlafzimmer. Benommen sieht er auf die Leuchtanzeige des Weckers, drei Uhr fünfzehn. Der Sekundenzeiger scheint zu stehen. Langsam dämmert es ihm, dass er nur einem Albtraum entkommen ist. Die nächste halbe Stunde verbringt er mit dem Versuch, wieder einzuschlafen. Er wirft sich ärgerlich von einer Seite auf die andere. Es nützt nichts, er ist und bleibt hellwach.
    Wo ist sie bloß geblieben, die Edda, denkt er und macht für diese Ungewissheit seine Dämonen in der Nacht verantwortlich. Tag für Tag hatte er in der letzten Woche jede Zeitung, die ihm unter die Finger kam, nach einer Nachricht über einen Leichenfund im Watt durchgeforstet, ohne Erfolg. Edda bleibt wie vom Erdboden verschwunden.
    Das unerwartete Vakuum verunsichert ihn zutiefst. Manchmal hat er das Gefühl, als fiebere er der Entdeckung förmlich entgegen.
    »Höchste Zeit, dass der Trubel endlich losgeht«, murmelt er und steigt aus dem Bett. Nachtwandlerisch tappt er durch die Dunkelheit bis in die Küche, öffnet den Kühlschrank und greift sich eine Flasche ›Flens‹. Mit dem rechten Daumen schnippt er den Bügelverschluss auf und nimmt einen kräftigen Schluck. Der Alkohol wirkt sofort. Er lässt sich rückwärts auf das Sofa fallen. Ohne abzusetzen fließt der Rest der Flasche durch seine Kehle. Eine wohlige Wärme breitet sich im Körper aus und er starrt grübelnd durch das Fenster in die Nacht hinaus. Nur die feine Mondsichel blitzt einmal kurz hinter pechschwarzen Wolken hervor.
    Bald ist Neumond, denkt er beiläufig, während eine düstere Ahnung in ihm aufsteigt.
    Eins ist sicher, irgendwann werden sie vor der Tür stehen!
    In der ersten Zeit war er bei jedem Geräusch zusammengezuckt und
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