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Haben oder Nichthaben

Haben oder Nichthaben

Titel: Haben oder Nichthaben
Autoren: Ernest Hemingway
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hingetan?»
    Die kreischende Frau schwieg einen Augenblick und sah von neuem in die Barkasse.
    «Er ist nicht da», sagte sie. «He, Sie da, Roger Johnson!» schrie sie dem Sheriff zu. «Wo ist Albert? Wo ist Albert?»
    «Der ist nicht an Bord, Mrs. Tracy», sagte der Sheriff.
    Die Frau warf den Kopf wieder nach hinten und kreischte von neuem los. Die Sehnen an ihrem abgemergelten Hals strafften sich; ihre Hände waren geballt, ihr Haar flog wild hin und her.
    Im Rücken der Menge schubsten und schoben sich die Leute, um auf den Hafendamm zu gelangen.
    «Los doch! Laßt doch auch andere was sehen!»
    «Sie werden sie gleich zudecken.»
    Und auf spanisch: «Lassen Sie mich vorbei! Lassen Sie mich auch sehen! Hay cuatro muertos. Todos son muertos. Lassen Sie mich sehen!» Jetzt kreischte die Frau: «Albert! Albert! Oh, mein Gott, wo ist Albert?»
    Hinter der Menge traten zwei junge Kubaner, die gerade gekommen waren und sich nicht durch das Gewühl durchdrängen konnten, ein paar Schritt zurück, nahmen einen Anlauf und preßten sich dann gemeinsam vorwärts. Die vorderste Reihe der Menge kam ins Wanken und schwankte, und dann kippten Mrs. Tracy und die beiden, die sie stützten, mitten in einem Schrei vornüber und hingen verzweifelt, aus dem Gleichgewicht gebracht, nach vorn geneigt, und dann, während sich die Stützenden festklammerten, fiel die immer noch kreischende Mrs. Tracy ins grüne Wasser, und der Schrei ging unter im Geplansch und Gespritze.
    Zwei Küstenschutzleute tauchten in das klare Wasser, wo Mrs. Tracy im Scheinwerferlicht rumplanschte. Der Sheriff beugte sich weit über das Heck und hielt ihr einen Bootshaken hin, und schließlich wurde sie von unten von den beiden Küstenschutzleuten hochgehoben und, vom Sheriff an den Armen gezogen, auf das Deck der Barkasse gehißt. Kein Mensch in der Menge hatte eine Hand gerührt, um ihr zu helfen, und als sie triefend auf dem Heck stand, sah sie zu ihnen hinauf, schüttelte beide Fäuste und schrie: «Scheißkerle, Scheiße!» Dann, als sie in das Cockpit blickte, jammerte sie: «Albert! Wo isch Albert?»
    «Er ist nicht an Bord, Mrs. Tracy», sagte der Sheriff und nahm eine Decke, um sie ihr umzulegen. «Versuchen Sie doch, sich zu beruhigen, Mrs. T,racy. Versuchen Sie doch, tapfer zu sein.»
    «Meine Tschähne», sagte Mrs. Tracy tragisch. «Hab meine Tschähne verloren.»
    «Wir werden morgen früh nach ihnen tauchen», sagte der Bootsmann des Küstenschutzbootes zu ihr. «Die werden wir schon wiederkriegen.»
    Die Küstenschutzleute waren aufs Heck geklettert und standen triefend da. «Komm, wir wollen gehen!» sagte einer von ihnen. «Mir wird kalt.»
    «Sind Sie okay, Mrs. Tracy?» fragte der Sheriff und legte ihr eine Decke um.
    «Okay?» sagte Mrs. Tracy. «Okay?» Dann ballte sie beide Fäuste und legte den Kopf zurück, um erst richtig loszukreischen. Mrs. Tracys Gram war größer, als sie ertragen konnte.
    Die Menge hörte ihr zu und schwieg respektvoll. Mrs. Tracy lieferte gerade die Klangeffekte, die zum Anblick der toten Banditen paßten, die jetzt vom Sheriff und einem der Beamten mit Küstenschutzdecken zugedeckt wurden, und die somit das größte Schauspiel verhüllten, das die Stadt gesehen hatte, seit der Isleno vor Jahren draußen auf der Landstraße gelyncht worden war und man ihn dann an einer Telegrafenstange aufgehängt hatte im Licht all der Autos, die herausgekommen waren, um ihn baumeln zu sehen.
    Die Menge war enttäuscht, als die Leichen zugedeckt wurden, aber immerhin waren sie die einzigen aus der ganzen Stadt, die sie gesehen hatten. Sie hatten gesehen, wie Mrs. Tracy ins Wasser gefallen war, und sie hatten, bevor sie hier herausgekommen waren, gesehen, wie man Harry Morgan auf einer Tragbahre ins Marinehospital befördert hatte. Als der Sheriff ihnen befahl, den Bootshafen zu verlassen, gingen sie ruhig und beglückt von dannen. Sie wußten, wie privilegiert sie waren.
    Inzwischen warteten Harry Morgans Frau Marie und ihre drei Töchter im Marinehospital auf einer Bank im Aufnahmezimmer. Die drei Mädchen weinten, und Marie biß auf ihr Taschentuch. Seit Mittag hatte sie nicht mehr weinen können.
    «Paps ist in den Bauch geschossen worden», sagte eines der Mädchen zu ihrer Schwester.
    «Es ist schrecklich», sagte die Schwester.
    «Seid still!» sagte die älteste Schwester. «Ich bete für ihn. Stört mich nicht dabei.»
    Marie sagte nichts und saß nur da und biß in ihr Taschentuch und auf ihre Unterlippe.
    Nach einer
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