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Hab und Gier (German Edition)

Hab und Gier (German Edition)

Titel: Hab und Gier (German Edition)
Autoren: Ingrid Noll
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Kindern schaden, dafür wollte ich sie bestrafen – allerdings nur mit einem schweren Kopf. Bin ich jetzt eine Mörderin?«
    »Auf keinen Fall, da kenne ich mich aus!«, sagte Cord. »Es war nicht vorsätzlich, sondern ein Unglücksfall.«
    Ich konnte jedoch nicht aufhören, mich anzuklagen. »Aber ich hatte gemeine Hintergedanken! Jetzt ist meine Freundin tot, nur durch meine Schuld! Das werde ich mir nie verzeihen!«
    »Hör auf damit«, sagte Cord. »Beinahe wärest du selber tot.«
    Allmählich fing ich mich wieder und war meinem Lebensretter dankbar. »Wenn du die Tropfen nicht klugerweise ausgewechselt hättest, wäre Judith demnächst Hausbesitzerin, und ihr könntet euch einen passenden Grabspruch für mich ausdenken.«
    »Und ich hätte bestimmt auch bald ausgedient«, sagte Cord. »Ich wüsste zu gern, wie sie mich und meine Kinder losgeworden wäre!«
    Wie zu erwarten, ordnete der Arzt eine Obduktion an. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Leiche freigegeben wurde, so dass ich Judiths Familie längst benachrichtigt hatte. Zur Verzweiflung, zu den Selbstvorwürfen und der Trauer ihrer Eltern kam noch hinzu, dass sie die Diagnose nur widerstrebend gelten ließen, da sie ihnen nicht plausibel und viel zu vage vorkam. Es war die Rede von Intoxikation durch Alkohol, unter Umständen auch durch Drogen. Demzufolge sei es schließlich zu Bewusstlosigkeit, Atemlähmung und Herzstillstand gekommen; ein Fremdverschulden sei unwahrscheinlich, könne jedoch nicht ganz ausgeschlossen werden. Als Nebenbefund wurde eine wohl länger zurückliegende Entfernung der Gebärmutter aufgeführt. Davon hatte Judith keiner Menschenseele je etwas verraten. Was mochte sie erlebt haben? Was mochte in ihr vorgegangen sein?
    Cord kannte Judiths Eltern von früher her. Verständlicherweise hatte er mich gebeten, seine Anwesenheit mit keinem Wort zu erwähnen. Judiths Eltern hatten ihn nie akzeptiert, ihn als Kriminellen abgestempelt und für einen lüsternen Verführer ihrer damals noch minderjährigen Tochter gehalten. Cord wusste auch von Judiths Schwester zu berichten, mit der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte.
    »Ihre ältere Schwester hat einen reichen Mann geheiratet und wohnt in einem luxuriösen Haus in Hamburg, Toplage direkt an der Alster. Judith hat mal gesagt, so eine Villa werde sie eines Tages auch besitzen, koste es, was es wolle«, erzählte Cord.
    Plötzlich musste ich an unser gemeinsames Erlebnis im Fahrstuhl denken. Nie war ich bisher auf die Idee gekommen, dass es für starke Persönlichkeiten schwer ist, der Zeugin des eigenen Schwächeanfalls zu verzeihen. Außerdem begriff ich erst jetzt, dass Judith wahrscheinlich unter einer lebenslänglichen Konkurrenzsituation gelitten hatte. Cord erinnerte sich weiter, dass Judiths Schwester außer einer Haushälterin, einer Nanny und einem protzigen Geländewagen noch vier Kinder hatte. Vielleicht wollte Judith die Zwillinge deswegen in ein Heim stecken, weil sie durch ihre Anwesenheit ständig an ihre eigenen Defizite erinnert wurde. Aber das waren alles Theorien, und wir waren schließlich keine Psychologen. Immerhin hatte ich mal gelesen, dass ein Kind häufig zum Troublemaker wird, wenn es dem Vergleich mit erfolgreichen Geschwistern nichts entgegensetzen kann.
    Unsere Hypothesen wurden bis zu einem gewissen Grad bestätigt, als ich Judiths Mutter persönlich kennenlernte. Nachdem sie ihre Ankunft angekündigt hatte, versuchten Cord und ich in einer fieberhaften Aktion alles in den Mansarden zu beseitigen, was auch nur im Geringsten verdächtig, anstößig oder für ihre Eltern kränkend sein konnte. Wir putzten und räumten, bezogen das Bett und beschlossen, dass Cord, Bella und die Kinder für einen Tag (eventuell auch länger) von der Bildfläche verschwinden sollten. Cords Schlafzimmer mit dem Bettenlager schloss ich ab.
    Die Eltern hatten es abgelehnt, ihre tote Tochter in der Gerichtsmedizin aufzusuchen, sie wollten sie lebendig in Erinnerung behalten. Erst später kam ihre Mutter angereist, um den Leichentransport nach Norddeutschland zu begleiten, denn ich hatte meinen exzentrischen Wunsch, Judith neben Wolfram und Bernadette zu bestatten, aus Pietät nicht geäußert.
    Judith hatte nie viel von ihrem Elternhaus erzählt, es sei langweilig und stockkonservativ gewesen. Ich erfuhr, dass der Umgang mit Judith in den letzten zehn Jahren immer komplizierter geworden sei, ihre Eltern hätten vor allem kein Wort über ihre großelterlichen Freuden äußern
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