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Hab und Gier (German Edition)

Hab und Gier (German Edition)

Titel: Hab und Gier (German Edition)
Autoren: Ingrid Noll
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dürfen, weil Judith dann sofort aufgelegt hätte.
    »Judith war unser Sorgenkind«, sagte die Mutter. »Ganz im Gegensatz zu ihr war unsere ältere Tochter gut in der Schule, spielte Cello, studierte BWL , heiratete den richtigen Mann und ist eine perfekte Mutter. Das war sicher nicht leicht für Judith. Schon als Teenager war sie rebellisch und hat uns in jener Zeit nichts als Ärger und Sorgen gemacht. Wir waren froh und dankbar, dass sie schließlich einen soliden Beruf ergriff und ein normales Leben führte. Aber sie hat es uns wohl nie verziehen, dass wir mit ihrer Schwester so viel mehr Glück…«
    Sie brach in Schluchzen aus, ich holte eine Kleenex-Schachtel und einen Cognac. Am liebsten hätte ich mitgeweint, doch ich sollte nun aus meiner Sicht berichten, wie es zuletzt um Judith stand. Zur nachträglichen Ehrenrettung sprach ich von einer lustigen, kreativen Freundin, einer guten Kollegin und liebenswerten Mitbewohnerin und verschwieg Judiths geheime Ambitionen. Die wahre Ursache für ihren unerwarteten Tod durfte ich auf keinen Fall verraten, ich deutete also bloß an, dass Judith wahrscheinlich ein Alkoholproblem gehabt habe.
    Eine Woche später fuhr ich mit der Bahn nach Hannover, um Judith die letzte Ehre zu erweisen. Es gab eine intime kleine Feier mit wenigen Trauergästen. Natürlich war auch die Schwester – mit Mann und den beiden ältesten Kindern – angereist. Sie war nicht etwa hübscher oder schlanker als Judith, nur wesentlich eleganter. Außerdem trat sie sehr selbstbewusst auf und kümmerte sich artig um ihre unglücklichen Eltern. Für mich war es ein schwerer Tag, und ich war froh, als ich wieder zu Hause war. Dabei realisierte ich widerwillig, dass ich meine schöne Villa nicht zuletzt auch Judith zu verdanken hatte; sie hatte mich auf Trab gebracht, mich zum Fälschen verleitet und dafür gesorgt, dass Wolfram unter die Erde kam. Doch die entscheidende Rolle hatte immer noch ich gespielt. Wenn ich die Einladung zum Gabelfrühstück abgelehnt hätte, wäre die Villa dem Heidelberger Hospiz zugefallen.
    Inzwischen ist fast ein halbes Jahr vergangen, und es hat sich viel getan. Cord hat seine Kinder in der hiesigen Pestalozzi-Schule angemeldet, die nur einen Katzensprung von der Biberstraße entfernt ist. Paul und Lilli haben beide ein eigenes Zimmer in der Mansarde, wo sich auch Cord ein Schlafzimmer eingerichtet hat. Im Parterre haben wir Küche, Wohn- und Esszimmer als gemeinsamen Treffpunkt beibehalten, ich bin aber in meinen Räumen im ersten Stock unabhängig vom Gemeinschaftsleben und kann mich jederzeit zurückziehen.
     Wir haben klare Regeln. Cord braucht zwar keine Miete zu bezahlen, ist aber für alle handwerklichen und technischen Tätigkeiten sowie den Garten zuständig. Er hat mir versprochen, nichts mehr anzustellen und sich lieber im Garten auszutoben. Inzwischen ist er auch als gelegentlicher Hausmeister bei Frau Altmann und zwei anderen alleinstehenden Frauen tätig und verdient eigenes Geld, das er bestimmt nicht versteuert.
    Es ist merkwürdig, dass ich auf meine alten Tage eine Familie und einen Hund habe, meistens für vier Personen koche, die Hausaufgaben der Kinder kontrolliere und mich dabei pudelwohl fühle. Mit dem ererbten Vermögen darf ich zwar nicht mehr allzu großzügig umgehen, denn selbst der Erlös aus dem zweiten Haus schmilzt zusehends dahin; notfalls könnte man zwei Zimmer oder das gesamte Erdgeschoss vermieten.
    Auch Cord hat sich verändert, es scheint so, als sei er von einer jahrelangen Last befreit. So fröhlich und gutgelaunt hatte ich ihn bisher noch nie erlebt, so hilfsbereit und lernbegierig. Zum ersten Mal im Leben – wie er zugibt – liest er, und zwar die von mir empfohlenen Bücher; er muss ja viel nachholen. Nach und nach habe ich erkannt, dass er keineswegs so unbedarft ist, wie mir Judith weismachen wollte.
    Als wir eines Abends noch ein Glas Wein zusammen trinken, stelle ich fest: »Wir haben es doch gar nicht schlecht getroffen, findest du nicht? Mit Frau Altmann und allen Nachbarn verstehen wir uns ausgezeichnet, die Kinder haben Freunde gefunden, es wird Frühling, und die ersten Obstbäume blühen…«
    »Aber was ist, wenn Natalie aus der Reha entlassen wird?«, fragt Cord.
    »Die kriegen wir auch noch eingebaut«, sage ich übermütig.
    »Wie denn?«, fragt er.
    »Natalie soll bei uns putzen.«
    Demnächst werden also fünf Personen in meiner Villa wohnen. Bei einem so großen Haushalt habe ich rund um die Uhr zu tun, von
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