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Gute Nacht Zuckerpüppchen

Gute Nacht Zuckerpüppchen

Titel: Gute Nacht Zuckerpüppchen
Autoren: Heide Glade-Hassenmüller
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streichelte Gaby über die Wange und küßte sie auf die Stirn. Das tat sie seit dem ersten Gespräch mit dem Doktor öfter. Dabei hatten sie Gaby hinausgeschickt, aber sie war hinter der Tür stehengeblieben und hatte gelauscht.
    »Ihre Tochter hat Nierentuberkulose. Ich will Ihnen nichts vormachen, es ist sehr ernst. Ein monatelanger Krankenhausaufenthalt wird nötig sein. Wir werden ein neues Medikament ausprobieren, das ist ihre einzige Chance. Eine Operation würde sie nicht überleben.«
    Mutti weinte, und Gaby freute sich, weil sie um sie weinte. Und alles zusammen fand sie es nicht schlimm, im Krankenhaus zu liegen. Sie hatte keine Schmerzen. Nur die Diät war blöde: Einen Tag bekam sie normales Essen, allerdings ohne Salz, den zweiten Tag nur Obst und den dritten Tag nur Wasser. Das sollte den Körper reinigen.
    Da die anderen Frauen jeden Tag gut duftendes Essen bekamen, fand Gaby ihren Hungertag schlimm. Manchmal sparte sie vom normalen Tag ein paar Brotrinden, bewahrte die in ihrem Nachtkästchen und kaute sie am Wassertag heimlich unter der Bettdecke. Unter die Bettdecke mußte sie sowieso immer, wenn der Arzt kam und die Frauen in ihren Betten untersucht wurden.
    »Gaby, Tauchstation«, rief Frau Ebbers, wenn die Tür aufging und die Arztvisite begann. Gaby machte es nichts aus, sie fühlte sich unter der Bettdecke wie in einer kleinen, weißen Höhle. Der Doktor lachte über ihr Versteckspielen, wie er es nannte, und sagte, sie sei ein tapferes Mädchen.
    Schwester Agnes kam jeden Montag früh außerhalb der Besuchszeit und brachte die Schularbeiten für eine Woche. Das war für Gaby eine willkommene Abwechslung. Sie lernte sehr gerne, und die Lobesworte der Ordensschwester trösteten sie über viele einsame Stunden hinweg. »Wenn du weiter so lernst, Gabriele, kannst du eine Klasse überspringen. Du bist viel weiter als deine Klassenkameradinnen.«
    Manchmal überlegte Gaby, ob sie ihr von Pappi erzählen sollte, aber vielleicht würde Schwester Agnes dann nicht mehr kommen, denn außer den Schularbeiten brachte sie ihr auch die Vorbereitungsarbeiten zur ersten heiligen Kommunion. »Geh in dich, mein Kind, und denke, was du gesündigt hast!« Das klang, als könne Schwester Agnes direkt in Gabys sündige Seele sehen.
    Gaby bereute von ganzem Herzen, unkeusch gewesen zu sein, so nannte man das, das wußte sie nun. Aber konnte sie versprechen, es nicht mehr zu tun? Nicht zu naschen, konnte sie versuchen, nicht zu schwindeln auch — aber das andere?
    Weil Gaby ahnte, wie schlimm ihre Sünde war, lernte sie den Katechismus fast auswendig. Allerdings auch, weil sie sah, wie die alten Frauen sie bewunderten: »Dieses zarte, kleine Kind — und lernt und lernt. Und fromm ist sie, ein richtiges kleines Engelchen.«
    Das tat Gaby gut. Sie klagte auch nicht mehr am Wassertag über Hunger. »Opfere deinen Hunger dem lieben Gott«, hatte Schwester Agnes ihr geraten, und es half tatsächlich. Wenn ihr Bauch wie ein hungriger Wolf knurrte, schloß sie die Augen und betete: »Lieber Gott, ich schenke dir meinen Hunger.« Das wiederholte sie solange, bis sie einschlief.
    Eine Woche vor ihrem siebten Geburtstag kam Gaby wieder nach Hause. »Ein voller Erfolg unserer neuen Behandlung«, hatte der Professor zum Abschied gesagt.

    Gaby wunderte sich, wie zittrig ihre Beine geworden waren, und nur mit viel Mühe schaffte sie die Treppen zu ihrer Wohnung im fünften Stock. Achim hatte gesagt, er wolle sie tragen, sie wäre bestimmt leichter als eine volle Kohlenschütte, aber schließlich war sie kein Baby mehr.
    Erschöpft lag sie wieder auf dem Sofa in der Küche und sah zu den immer noch nicht weggeschwommenen Entenkindern hoch.
    »Pappi kommt erst in vier Wochen zurück«, hatte Mutti ihr gesagt. Beinahe glücklich schlief Gaby ein.
    Vier Wochen sind eine lange Zeit, und vielleicht war dann alles anders?

3

    Mutti hatte eine gut bezahlte Arbeit in ihrem erlernten Beruf als technische Zeichnerin gefunden, und die Nähmaschine hörte auf zu rattern.
    Pappi kam von der >Kur< zurück und sah sehr blaß aus. Er hustete viel.
    »Er hat es tatsächlich an der Lunge«, erklärte Achim ihr. »Ich habe gehört, daß er jetzt wirklich in ein Sanatorium soll. Die feuchte Luft hinter Gittern war nicht gerade die richtige Kur für ihn.«
    Obwohl Pappi ihr leid tat, wenn er so husten mußte, machte Gaby einen großen Bogen um ihn. Nicht immer gelang es ihr, seinen harten Händen zu entkommen, aber wenn es geschah, hielt sie still
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