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Gurkensaat

Gurkensaat

Titel: Gurkensaat
Autoren: F Steinhauer
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Zittern ergriff seinen gesamten Körper. Nachtigall hörte, wie Olaf Gieselkes Schuhe rhythmisch auf den Boden schlugen und seine Zähne klapperten. Er musterte ihn besorgt, sprang auf und alarmierte den Notarzt, der noch immer mit Großmutter und Enkelin im Wohnzimmer beschäftigt war.
     
    Während Dr. Manz, ein dynamischer junger Mann mit dunklen Locken, den Nachtigall schon von früheren Tatorten kannte, mit Herrn Gieselke über ein Beruhigungsmittel diskutierte, warf er dem Hauptkommissar einen langen, ausgesprochen missbilligenden Blick zu. »Sie stellen ihm jetzt besser keine Fragen mehr.«
    »Ich lasse mir von irgendeinem dahergelaufenen Quacksalber keine Spritze geben!«, wehrte sich der Großvater mit schwacher Stimme.
    »Aber es bringt Ihnen Erleichterung. Es ist doch nur ein winziger Einstich.«
    »Nehmen Sie bloß Ihre verdammte Nadel weg!«
    »Vielleicht als Tablette?«, fragte Dr. Manz den unbeugsamen Patienten. »Sie nehmen eine, legen sich hin und in wenigen Minuten fühlen Sie eine deutliche Besserung. Dauert nur länger. Mit der Spritze käme die Wirkung wesentlich schneller.«
    Mit hochgezogener Augenbraue nahm Gieselke die Filmtablette in die Hand. »Das ist Flunitrazepam. Rohypnol«, erklärte Dr. Manz zu Nachtigall gewandt.
    »Mit einem Schluck Tee wird’s schon gehen«, ermutigte der junge Arzt den widerspenstigen Mann. Der Großvater griff nach der Tasse.
    »Erzählen Sie mir etwas über Oma und Enkelin«, forderte Nachtigall flüsternd und zog Dr. Manz außer Hörweite Gieselkes.
    »Die Kleine heißt Annabelle. Sie hat die Leiche ihres Bruders gefunden. Das ist schon für uns alle ein fürchterlicher Anblick. Wie entsetzlich muss es erst für ein so kleines Mädchen sein. Sie hat einen Schock.«
    »Befand sie sich noch im Arbeitszimmer, als Sie kamen? Oder hatte sie den Raum längst verlassen – war vielleicht rausgerannt?«
    »Nein, rausgerannt ist sie nicht. Frau Gieselke fand das Kind im Arbeitszimmer vor. Sie erzählt, Annabelle habe ununterbrochen markerschütternd geschrien und sei nicht vom Platz wegzubewegen gewesen. Sie sah sich gezwungen, das Mädchen aus dem Zimmer hinauszutragen. Jetzt allerdings sagt die Kleine kein Wort mehr, sie schreit auch nicht, stiert nur vor sich hin und ist ganz steif. Das Gesicht ist völlig ausdruckslos. Maximaler Muskeltonus. Posttraumatische Schockreaktion, Mutismus.«
    »Sie meinen, sie braucht psychologische Betreuung.«
    Dr. Manz nickte zufrieden. Der Hauptkommissar hatte offensichtlich verstanden, was zu tun war. Er würde das Mädchen nicht mit unnötiger Fragerei belasten.
    »Eine Befragung ist demnach ausgeschlossen.«
    »Sie wird Ihnen nicht antworten. Jedenfalls nicht im Moment.«
    »Wie lange hält so etwas an?«
    »Das kann niemand voraussagen. Manchmal ist es nach ein paar Stunden überstanden, manchmal dauert es aber erheblich länger. Und in diesem Fall sollten Sie nicht davon ausgehen, schnell zu einer Zeugenaussage zu kommen.«
    »So«, wandte er sich daraufhin erneut dem Großvater zu, »ich bringe Sie jetzt ins Bett. Sie werden ein paar Stunden schlafen. Wenn Sie aufwachen, wird sich Ihr Hausarzt weiter um Sie kümmern.«
    »Sprechen Sie nicht in diesem herablassenden Ton mit mir!«, herrschte Olaf Gieselke den jungen Arzt an, der nervös seine Brille auf der Nase zurechtschob. »Schließlich bin ich nicht dement. Ich kann sehr gut allein für mich sorgen!« Mit schleppenden Schritten machte er sich auf den Weg, stützte sich an der Wand ab und verschwand um eine Ecke.
    Dr. Manz zuckte mit den Schultern. »Der Hausarzt ist bereits verständigt. Eigentlich sollte er längst hier sein. Aber er war gerade zu einem Notfall unterwegs – ging wahrscheinlich länger, als er erwartet hatte.« Damit machte er kehrt und war ebenfalls verschwunden.
    Peter Nachtigall sah den Gang entlang und fragte sich, wie er diesen Fall aufklären sollte, wenn seine einzige Zeugin nicht mit ihm sprechen konnte.

3
    Das Mädchen saß kerzengerade auf dem Sofa, wie eine Puppe, die man in der Hüfte einknicken konnte, die Beine steif ausgestreckt, und starrte auf einen Punkt an der Wand. Sie reagierte weder auf den großen Fremden, der das Zimmer betrat, noch auf die freundlichen Worte, mit deren Hilfe er ein Gespräch einzuleiten versuchte.
    »Lassen Sie die Kleine, sie will nicht!«, wisperte die Großmutter, eine magere, grobknochige Frau. Sie schien vollständig in die Polsterung des Sessels eingesunken zu sein. Ihr Gesicht war aschfahl und die grauen,
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