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Gun Machine

Gun Machine

Titel: Gun Machine
Autoren: Warren Ellis
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schwer, seine beiden Manhattans wahrzunehmen, es quälte und zermürbte ihn, auf den Ort scharfzustellen, den er Neu-Manhattan nannte. Keine Wälder, sondern Häuser. Keine Pferde, sondern Autos. An manchen Tagen hatte er damit keine Probleme, doch heute war er aus dem Tritt, und sein Geisteszustand bereitete ihm ungreifbare Sorgen. Vielleicht wurde er alt, vielleicht war sein Hirn nicht mehr ganz so plastisch? Alle paar Monate fragte er sich beim Aufwachen, ob er womöglich ernsthaft krank war.
    In jüngeren Jahren hatte er mal Ketamin genommen, und als er die Erfahrung verarbeitet hatte, hatte er die erste Wirkung identifiziert: Er hatte sich keine Gedanken mehr darüber gemacht, Ketamin genommen zu haben. Auf diese Art von Wahrnehmungsverlust ließ er sich nie wieder ein, doch an seinen gelegentlichen schwachen Tagen bohrte sich das ungute Gefühl in seine Magengrube, dass er sich wochenlang keine Gedanken mehr darüber gemacht hatte, Neu-Manhattan nicht sehen zu können.
    Der Tag hatte schlecht angefangen, und so war er dem Pfad zu seinem Lager gefolgt, um nach dem Rechten zu sehen. Straßenschilder und Bäume waren vor seinen Augen aufgeflackert und wieder verschwunden. Der Weg hatte ihn eine Stunde mehr gekostet als gewöhnlich, vor allem weil es nicht leicht war, Überwachungskameras wahrzunehmen und zu umgehen. Manchmal transkribierte sein Hirn die Kameras in Elemente Alt-Manhattans, doch heute arbeitete alles gegen ihn, selbst sein eigenes Denkvermögen.
    Der Jäger sah zu, wie sein Schatz von Männern und Frauen in blauen Jacken in Fahrzeuge verladen wurde. Wie die Arbeit von Jahren verschwand.
    Er war bewaffnet. Er hätte versuchen können, sie aufzuhalten, selbst wenn er keine Kanone dabeigehabt hätte. Er war ein Jäger. Falls nötig, könnte er sie mit bloßen Händen erlegen. Oder nehmen, was gerade zur Hand war, und daraus eine Waffe fertigen. Doch sie würden ihn sehen.
    Sein Zorn wuchs. Teile Neu-Manhattans verabschiedeten sich aus seiner Wahrnehmung. Er roch Eiche, Kiefer, süßliche Birke. Hörte, wie ein aufgeschreckter Schwarm Regenpfeifer klappernd aus den Baumwipfeln verschwand. Rinde kroch über die Fassadenverkleidung der Gebäude, beschienen vom fleckigen Licht des Blätterdachs. Als er zu Boden blickte, musste er die ganze Härte seiner Kraft heraufbeschwören, um das feuchte Gras unter seinen Füßen wieder in spröden Gehsteig zu verwandeln. Ein Rotrücken-Salamander, der keine taubenetzten Blätter mehr hatte, durch die er huschen konnte, verging im Nebel.
    Der Jäger stand reglos da und beobachtete, wie sie die letzten Hinweise auf sein Leben abtransportierten. Abgesehen von den Leichen.

Acht
    Die Konturen des 1st Precinct erinnern an eine angeknackste Pfeilspitze, die aufs Meer hinausweist. Alles in allem umfasst das Gebiet eine Quadratmeile Manhattan. Tallow musste in die andere Richtung, weg von seiner Meile, und das war nie ein Grund zur Freude.
    Zurzeit hatte Tallow nicht gerade das Gefühl, viele Freunde am Ericsson Place zu haben. Oder besser ausgedrückt: Wenn man ihm helfen würde, dachte er, dann höchstens halbherzig und aus Mitleid. Das würde nicht viel bringen, und schon beim Gedanken daran rumorten Scham und verletzter Stolz in seinen Eingeweiden. Bei der Vorstellung, zum Klinkenputzen in die Pearl Street zurückzukehren, wurde ihm erst recht übel. Da verbrachte er lieber zehn Minuten vor dem Laptop in ACRIS , dem Online-Register der Stadt, um sich Namen und Büroadresse des Besitzers des Mietshauses zu besorgen.
    Vor ihm lag eine lange Fahrt nach Uptown. Zuerst durch die engen Straßen des tiefsten 1st, die in kühlen Schatten lagen und allmählich den süßlichen Schweißgeruch von Halal-Gyros und Fleischspießchen annahmen, da die Vorhut der Straßenverkäufer gerade dabei war, ihre glänzenden, klapprigen Wagen und Pisspötte aufzustellen, um in den sechzehnstündigen Arbeitstag zu starten.
    Hinter dem Steuer fühlte Tallow sich nicht wohl– er hatte das konstante, ungute Gefühl, sich eigentlich auf der falschen Seite des Wagens zu befinden. Hoffentlich würde die lange Fahrt sein Hirn ein wenig umpolen.
    Vorbei an zwielichtigen Läden, die mit Sechzig-Minuten-Scheidungen warben, und an auffällig leeren Geschäften, die die Drogenfahndung liebend gern nach Dealern durchforstet hätte, wenn denn das Budget dafür dagewesen wäre. Vorbei am Ground Zero, der heute Morgen vom Sound schlampig befestigter Plastikplanen beschallt wurde, die im Wind knatterten wie
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