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Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre

Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre

Titel: Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
Autoren: Gianrico Carofiglio
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zeigt uns, wie alle Regeln ihrer Art, lediglich eine Möglichkeit auf, wie wir die Ereignisse des Lebens interpretieren können , wenn wir das Bedürfnis haben, ihnen einen Sinn zu geben. In Wirklichkeit ist das Leben – auch und vor allem jene Bruchteile des Lebens, die vor Gericht enden – jedoch so komplex, dass jeder Versuch, es auf klassifizierbare Regeln und wohl geordnete, kohärente Geschichten zu reduzieren, zwangsläufig scheitern muss.
    Ein Philosoph hat gesagt: Für sich betrachtet hat das Geschehen, die Tat, keinerlei Sinn. Einen Sinn bekommen die Taten und Ereignisse dieser Welt erst durch ihre Darstellung in Geschichten.
    Der Mensch denkt sich also Geschichten aus, und das nicht nur in Prozessen, um den Dingen einen Sinn zu geben, den sie andernfalls nicht hätten. Und um ein klein wenig Ordnung ins Chaos zu bringen.
    Im Grunde sind diese Geschichten alles, was wir haben.«
    Ich hielt inne, weil mich plötzlich ein Gedanke durchzuckte. Wem sagte ich das eigentlich? Mit wem sprach ich in Wirklichkeit?
    Sprach ich wirklich mit den Richtern, die da vor mir saßen? Oder mit Natsu, die ich hinter mir spürte, auch wenn ich sie nicht sehen konnte? Oder mit Paolicelli, der den Sinn dieser Geschichte nie erfahren würde, egal wie sie ausging? Oder sprach ich mit mir selbst, und alles Übrige – alles – war nur ein gottverdammter Vorwand?
    Einen Moment lang glaubte ich zu verstehen; ein schwaches, melancholisches Lächeln trat auf meine Lippen. Nur einen Moment lang. Dann ging mir die Erkenntnis, sofern ich wirklich zu einer gelangt war, auch schon wieder verloren.
    Ich sagte mir, dass ich weiterreden und zum Schluss kommen musste. Aber ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Oder nein, ich hatte keine Lust mehr, noch irgendetwas zu sagen. Ich wollte nur noch weg, und damit basta.
    So zog sich mein Schweigen in die Länge, übermäßig in die Länge. Die fragenden Gesichter der Richter verrieten erste Anzeichen von Ungeduld.
    Ich musste zum Schluss kommen.
    »Dem Leben kommt man nicht bei, indem man aus mehreren Geschichten diejenige auswählt, die einem am wahrscheinlichsten, am plausibelsten oder am geordnetsten erscheint. Das Leben ist nicht geordnet, und es folgt nicht den Regeln unserer Erfahrung. Im Leben gibt es Glück und Pech. Der eine gewinnt im Lotto, der andere stirbt an irgendeiner ausgefallenen Krankheit.
    Und der dritte wird wegen einer Tat festgenommen, die er nicht begangen hat.«
    Ich atmete tief ein und hatte plötzlich das Gefühl, die ganze Müdigkeit der Welt laste auf meinen Schultern.
    »Wir haben Ihnen viele Dinge erzählt, der Staatsanwalt und ich. Dinge, mit denen sich Prozesse entscheiden und Urteile verfassen lassen, zweifellos. Dinge, die dazu dienen, unsere Argumente zu stützen und unsere Entscheidung zu untermauern, Dinge, die uns die Illusion vermitteln sollen, es handle sich um rationale Argumente und Entscheidungen. Manchmal sind sie das auch, manchmal nicht, aber das ist gar nicht der springende Punkt. Der springende Punkt ist, dass Sie – dass wir – im Augenblick der Entscheidung alleine vor der Frage stehen: Bin ich mir sicher, dass dieser Mensch schuldig ist?
    Wir stehen alleine vor der Frage: Was verlangt die Gerechtigkeit von mir? Nicht rein abstrakt, im Hinblick auf Methode und Theorie, sondern ganz konkret, in diesem Fall, für das Leben dieses Menschen.«
    Die letzten Worte brachte ich ganz leise vor. Danach stand ich schweigend da. Und hing einem Gedanken nach, glaube ich. Vielleicht suchte ich einen passenden Schlusssatz. Vielleicht auch den Sinn dessen, was mir da über die Lippen gekommen war, indem ich meinen Worten einfach freien Lauf gelassen hatte.
    »Sind Sie fertig, Herr Guerrieri?«
    Der Ton des Vorsitzenden war zuvorkommend, fast behutsam. Als habe er etwas gemerkt und wolle nicht unhöflich oder taktlos erscheinen.
    »Danke, Herr Vorsitzender. Ja, ich bin am Ende.«
    Daraufhin wandte er sich Paolicelli zu, der den Kopf an das Gitter gelehnt hatte. Seine Hände umklammerten die Eisenstäbe.
    Er fragte ihn, ob er noch etwas zu sagen habe, bevor sich das Gericht zur Entscheidung zurückzog. Paolicelli sah zuerst mich und dann erneut den Richter an. Er schien drauf und dran, etwas zu sagen. Aber am Ende schüttelte er den Kopf und meinte, nein danke, Herr Vorsitzender, er habe dem nichts hinzuzufügen.
    Es war genau in diesem Moment – die Richter sammelten ihre Papiere ein, um sich ins Beratungszimmer zurückzuziehen -, dass mich das Gefühl
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