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Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre

Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre

Titel: Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Stuhl zurück und umrunde die Bank, bis ich sie im Rücken habe.
    Die Richter sitzen vor mir und sehen mich an.
    Ich denke an viele Dinge. Dinge, die mit dem Prozess überhaupt nichts zu tun haben. Vielleicht haben sie auch damit zu tun, aber auf eine Art, die schwer zu erklären ist. Auch mir selbst schwer zu erklären ist.
    Ich denke, dass ich nach dem Prozess, egal, wie er ausgeht, wieder alleine dastehen werde. Ich denke, dass ich das kleine Mädchen nie mehr wiedersehen werde.
    Mindestens nie mehr als kleines Mädchen.
    Vielleicht begegnen wir uns in vielen Jahren einmal zufällig auf der Straße. Ich werde sie bestimmt wiedererkennen. Wahrscheinlich habe ich dann weiße Haare – ein paar habe ich ja jetzt schon -, und sie wird an mir vorübergehen, ohne mich auch nur anzusehen. Warum sollte sie auch?
    Wo mag Margherita jetzt sein? Wie viel Uhr ist es in New York?
    Zeitlupe.
    Der Vorsitzende räusperte sich, hüstelte. Und dann begann die Zeit plötzlich wieder normal zu ticken. Auch die Menschen und die Gegenstände im Saal kehrten zu ihren festen Umrissen zurück.
    Ich warf einen Blick auf die Uhr und begann zu sprechen.
    »Danke, Hohes Gericht. Der Staatsanwalt hat Recht. Sie müssen sich bei der Bewertung des vorliegenden Beweismaterials wie immer von strengen Kriterien leiten lassen. Und er hat auch Recht mit dem, was er theoretisch zum Prinzip der Stichhaltigkeit sagt. Ich möchte mich nun aber dem konkreten Fall zuwenden und anhand seiner überprüfen, ob die Schlüsse, zu denen der Staatsanwalt gelangt, ebenso vertretbar sind wie die Prämissen, von denen er ausgeht.«
    Ich drehte mich nach meiner Bank um und nahm erneut das Notizblatt zur Hand.
    »Der Staatsanwalt hat in seiner Rede den Kassationshof zitiert und Folgendes gesagt, ich habe es mir notiert: Der Kassationshof hat klargestellt, dass ein Indizienbeweis es ermöglichen muss, den Tathergang eindeutig zu klären, so eindeutig, dass jede andere vernünftig erscheinende Lösung ausgeschlossen werden kann; abwegige oder gänzlich spekulative Sachverhaltsschilderungen scheiden von alleine aus. Andernfalls dürfte nicht länger von Indizienbeweis gesprochen werden; dann müsste man von einem Beweis per absurdum sprechen und sich an Regeln orientieren, die in den Bereich der exakten Wissenschaften gehören – was in der Rechtsprechung freilich nicht verlangt werden kann.
    Dem kann ich nur beipflichten.
    Im Klartext heißt das: Das der Anklage zugrundeliegende Ermittlungsergebnis zum Tathergang kann nicht dadurch entkräftet werden, dass man irgendwelche abstrusen Gegenhypothesen aufstellt, sprich, sich in Vermutungen verliert oder das Blaue vom Himmel herunter erzählt. Das ist es doch, was der Staatsanwalt uns im Grunde sagen will. Und wenn mehrere unterschiedliche Möglichkeiten des Tathergangs vorliegen, ist seinen Angaben zufolge diejenige zu bevorzugen, die alle zur Verfügung stehenden Indizien auf sinnvolle Weise miteinander verbindet; Hypothesen, die auf Vermutungen oder purer Phantasie basieren, müssten dagegen aussortiert werden. Doch wie? Und hier bitte ich Sie, Ihr Augenmerk darauf zu richten, denn das ist der Punkt, an dem die Argumentation der Anklage hinkt: Indem man an diese möglichen Tathergänge die Messlatte der Plausibilität anlegt, das heißt, indem man sich bei ihrer Beurteilung von einem Kriterium leiten lässt, das seinen Ursprung in Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen hat.
    Für den Staatsanwalt ist ein Tathergang immer dann plausibel, wenn er mit einer Art Drehbuch der Normalität zu vereinbaren ist, einem Buch, in dem geschrieben steht, was in der Regel passiert, man könnte auch sagen, was für gewöhnlich oder normalerweise passiert .
    Mit anderen Worten: Was unter bestimmten Voraussetzungen im Normalfall passiert, wird zum maßgeblichen Kriterium erhoben, anhand dessen wir beurteilen sollen, was bei analogen Voraussetzungen im konkreten Fall passiert sein könnte.«
    Sie hörten mir zu, alle drei. Und der Aufmerksamste von ihnen schien Russo zu sein. Unglaublich, aber wahr.
    Im Folgenden ging ich noch einmal durch, was die Ermittlungen vor Gericht, also die Zeugenanhörungen, ergeben hatten. Das dauerte nicht allzu lange, schließlich handelte es sich um Dinge, die sich sozusagen unter ihren Augen abgespielt hatten und die sie ebenso gut kannten wie ich. Die kurze Zusammenfassung diente mir auch nur dazu, mein Hauptargument einzuführen.
    »Was tun wir denn letzten Endes in Strafverfahren? Ich meine, wir
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