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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Autoren: Gianrico Carofiglio
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gelehnt und eine Zigarette geraucht hatte.
    Als ich merkte, dass die Angestellten mich im Vorbeigehen komisch ansahen, ging auch ich.
    Draußen war Frühling.

3
    D er Frühling wurde rasch zum Sommer, aber die Tage waren alle gleich.
    Auch die Nächte waren alle gleich. Finster.
    Bis zu einem Junimorgen.
    Ich kam vom Gericht und fuhr gerade mit dem Lift zu meiner Kanzlei im achten Stockwerk hinauf, als mich aus heiterem Himmel Panik befiel.
    Nach Verlassen des Fahrstuhls blieb ich längere Zeit auf dem Treppenabsatz stehen, kurzatmig, mit kaltem Schweiß bedeckt, den Blick auf einen Feuerlöscher geheftet. Und mit einer entsetzlichen Angst.
    »Fühlen Sie sich wohl, Avvocato?« Die Stimme von Signor Strisciuglio, pensionierter Steuerbeamter und Bewohner der anderen Wohnung im achten Stock, klang ein wenig verwundert und zugleich ein wenig besorgt.
    »Ja, danke. Ich bin bloß vollkommen durchgeknallt, aber das gibt sich wieder. Und wie geht es Ihnen?«
    Stimmt nicht. Nur ein wenig schwindlig, sagte ich, aber jetzt sei wieder alles in Ordnung, danke und auf Wiedersehen.
    Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung, wie ich in den darauf folgenden Tagen und Monaten noch schmerzlich erfahren sollte.
    Da ich mir den Vorfall im Lift nicht erklären konnte, verfolgte mich ab sofort der Gedanke, dergleichen könne sich wiederholen.
    Von da an fuhr ich nicht mehr Lift. Eine dumme Entscheidung, die das Ganze nur noch verschlimmerte.
    Statt mich zu erholen, begann ich nun zu fürchten, die Panik könne mich überall und zu jeder Zeit überfallen.
    Und als ich mich lange genug mit diesem Gedanken gequält hatte, gelang es mir tatsächlich, einen neuen Anfall zu produzieren, diesmal mitten auf der Straße. Er war weniger heftig als der erste, aber seine Folgen waren noch viel verheerender.
    Mindestens einen Monat lang lebte ich in der Angst vor einer neuen Panikattacke. Wenn ich heute daran zurückdenke, muss ich fast lachen. Ich lebte in der ständigen Angst, von Angst befallen zu werden.
    Ich stellte mir vor, bei einem neuerlichen Anfall wahnsinnig zu werden, womöglich gar zu sterben. Im Wahn zu sterben.
    Dies wiederum brachte mir zu meinem abergläubischen Entsetzen eine viele Jahre zurückliegende Episode in Erinnerung.
    Ich studierte damals noch. Eines Tages bekam ich einen Brief, ein kariertes Blatt mit verschnörkelten, beinahe kindlichen Schriftzügen.
     
    Lieber Freund, lies diesen Brief, schreibe ihn danach zehnmal von Hand ab und schicke die Kopien an zehn Deiner Bekannten. Dies ist kein normaler Kettenbrief, sondern eine echte Glückskette: Wenn Du sie fortführst, werden Glück, Geld, Liebe, Zufriedenheit und Freude in Dein Leben einkehren, wenn Du sie jedoch unterbrichst, könnte Dir entsetzliches Unglück widerfahren. Eine junge, frisch verheiratete Frau, die sich seit zwei Jahren vergeblich ein Kind wünschte, schrieb den Brief ab und sandte ihn an zehn Bekannte. Drei Tage später erfuhr sie, dass sie schwanger war. Ein armer Postangestellter, der den Brief ebenfalls abschrieb und an zehn Bekannte und Verwandte verschickte, gewann eine Woche später eine große Summe Geldes im Lotto.
    Ein Gymnasiallehrer dagegen lachte, als er diesen Brief bekam, und zerriss ihn. Wenige Tage später hatte er einen Autounfall, brach sich das Bein und außerdem wurde ihm die Wohnung gekündigt.
    Eine Hausfrau, die die Kette gar nicht unterbrechen wollte, verlor den Brief und konnte ihn deshalb nicht weitersenden. Kurz darauf erkrankte sie an Hirnhautentzündung, von der sie zwar genas, aber nicht ohne bleibende Schäden.
    Ein Arzt zerriss den Brief, nachdem er ihn gelesen hatte, und rief mit verächtlicher Stimme aus, an diesen abergläubischen Quatsch dürfe man nicht glauben. In den darauf folgenden Monaten wurde ihm von der Klinik, an der er arbeitete, gekündigt, seine Frau verließ ihn, er erkrankte und starb schließlich in vollkommener geistiger Umnachtung.
    Unterbrich die Kette nicht!
     
    Ich las den Brief meinen Freunden vor, die sich zuerst totlachten und mich dann fragten, was ich den nun vorhätte – den Brief zu zerreißen und in geistiger Umnachtung zu sterben oder mich hinzusetzen und ihn in Schönschrift zehnmal abzuschreiben? Letzteres hätten sie mir natürlich während der nächsten zehn Jahre regelmäßig, und vermutlich alles andere als höflich, unter die Nase gerieben.
    Ich ärgerte mich und überlegte mir, dass sie wahrscheinlich nicht so aufgeklärt dahergeredet hätten, wenn sie den Brief bekommen
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