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Grippe

Grippe

Titel: Grippe
Autoren: Wayne Simmons.original
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begegneten, etwa als Zeitungsverkäufer an Ampeln, Bettler oder Straßenmusiker und in seltenen Fällen Kleinkriminelle. In Belfast waren sie alles andere als willkommen, und auf dem Land erging es ihnen sogar noch schlimmer. George konnte nicht nachvollziehen, wie sie die ständige Diskriminierung ertrugen, die Verleumdungen und das beleidigende Geschmiere an den Wänden. Vermutlich verstanden sie es gar nicht. Die Sprachbarriere verhinderte, dass ihnen Belfasts dunkle Seite vollends bewusst wurde.
    Er beugte sich über das Bett. Obwohl das Mädchen nur schwach bei Bewusstsein war, sprach er es an.
    » Hi, Kleine«, sagte er in Ermangelung einer besseren Idee, denn so redete er auch mit seiner Nichte. Da schämte er sich plötz-lich, diesen besonderen Namen für jemand anderen zu verwenden. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre, nein. Was er sagte, war gewiss ohnehin bedeutungslos und obendrein wegen seiner Maske nicht verständlich. Nett gemeinte Worte für einen ermatteten Körper im Fiebertraum. Dass sie ihnüberhaupt hörte, war sehr unwahrscheinlich, doch George hielt es für angebracht, wenigstens etwas zu sagen, allein schon um der Mutter willen.
    Er fuhr dem Mädchen mit dem Handschuh über die Stirn, die so heiß war, dass er es durch das Plastik spürte. Dann strich er ihr das verschwitzte Haar aus den Augen, zupfte ein frisches Papiertuch aus einer Schachtel neben dem Bett und putzte etwas von der Flüssigkeit ab, die zunehmend stärker aus ihrer Nase lief. Plötzlich begann sie zu husten und spie ihm dabei einen dunklen Klecks aufs Visier. Ruhig wischte er ihn ab, ehe er ein weiteres Tuch in Wasser tauchte, um ihr damit die sengende Stirn zu betupfen. Nachdem er mehrere Tücher nassgemacht hatte, wusch er ihr Gesicht.
    »Schhhh«, machte er jedes Mal, wenn sie krampfartig aufstieß. »Alles wird gut.«
    Glatt gelogen. Die Krankheit war eindeutig sehr weit fortgeschritten. Allerdings offenbarte sich unter dem Dreck, nachdem er sie saubergemacht hatte, ein goldiges Kind. Sie war bemerkenswert hübsch. George sah die Mutter an und hoffte, sie werde diesen Anblick verinnerlichen, ihre Tochter so im Gedächtnis bewahren.
    Dann schaute er seinen Partner an, der betreten neben dem Bett stand. Der große Norman wirkte vor einem so kleinen, schwachen Kind noch gewaltiger. Wie ein Gorilla oder Märchenriese, der über sie wachte. Dem groben Klotz schien das Bild, das sich ihm bot, mehr als unangenehm zu sein; er war ehrlich bestürzt. Sein schwermütiges Herz schien am Bett des Kindes – dieses unschuldigen, kleinen Geschöpfs, das ein solches Schicksal nicht verdiente – dahinzuschmelzen.
    George schüttelte den Kopf, stieß unter dem Glas und den Schläuchen einen tiefen Seufzer aus. Dann raffte er sich auf – mühselig, weil der Sauerstofftank arg schwer war.
    »Oh Gott«, brummelte Norman. George nahm ihn beiseite, um die Lage in aller Ruhe zu besprechen. Sein Gesichtsschutz beschlug immer mehr, sodass er Normans Miene kaum erkannte. »Ganz schön heftig diesmal, Kumpel. Was sollen wir tun?«
    Der Große wusste nur zu gut, worauf es hinauslief, denn er hatte ihn auch bei allen bisherigen Einsätzen begleitet.
    »Wir müssen uns ans Protokoll halten«, antwortete George und hätte kotzen können, als er das Wort aussprach. Andererseits schien es stimmig, sich wie die Ideenfabriken auszudrücken, um etwas Unaussprechliches zu umreißen. Etwas eindeutig Falsches ließ sich mittels sinnentleerter Begriffe in einer Kunstsprache kaschieren.
    Protokoll. Verfahrenstechnisch.
    Norman starrte ihn bloß an, als sei George ebenfalls infiziert – vom Nonsens, vom Büroapparat und den schieren Worten, die selbiger gebrauchte. Es beunruhigte George, dass sein Handlanger ihn so anschaute, und mit einem Schlag wurde er sich bewusst, dass er unter der Maske schwitzte. Er atmete hektisch und angestrengt, seine Finger juckten und klebten am Kunststoffinnenfutter der Handschuhe. Ob wegen der Frau, die ihm so dicht auf die Pelle gerückt war, nach dem Anblick der Kleinen im Bett oder aufgrund der Worte, die er geäußert hatte: Er fühlte sich dreckig.
    Hatte er selbst die Grippe?
    »Scheiß Protokoll«, platzte Norman heraus. Mit der Einstellung der Macher im Hintergrund hatte er sich nie anfreunden können. »Ich stelle keine Sechsjährige unter Quarantäne. Nicht unter diesen Umständen. Keine Chance.«
    »Wir sollten die Mutter mit ihr einsperren«, schlug George vor. Grauenhaft, so etwas zu sagen. Das wusste er, wie ihm
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