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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben
Autoren: Florian Weber
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1939, 5 Uhr 45, zurückgeschossen wurde. Alles, was darauf folgte, rechtfertigte sich an diesem offensichtlichen Akt der Selbstverteidigung.
    Nusser, wie es sich für einen gebildeten Soldaten gehörte, verrichtete seine Arbeit mit Akribie und Disziplin.
    Er, zusammen mit den meisten seiner Kameraden. Manche schluderten. Zum Beispiel Klaus Sauckel, den alle nur »den Saukerl« nannten.

    Der Saukerl
    Klaus Sauckel vergnügte sich mit drei Dirnen in seiner Prunkwohnung, die er einem einflussreichen Obergruppenführer aufgrund sehr, sehr besonderer Dienste zu verdanken hatte. Sauckel übergoss die nackten Frauen mit perlendem »Franzackenwein« der gehobenen Preisklasse und stieß Befehle aus, welche Ausführungen schier unmöglicher Sexualpraktiken zur Folge hatten. Natürlich war er besoffen. Natürlich war er grob. Natürlich war er nackt und verschwitzt, sein Scheitel klebte ihm hitleresk in der Stirn. Ein Führer der Amüsierdamen. Natürlich war ihm egal, dass er morgen früh wieder auf und ab marschieren musste, mit der doofen Nuss, und seine tumben, pfeifenden Ohren nach verdächtigen Geräuschen in den verlassenen Gassen und verlassenen Häusern auszustrecken hatte. Die Amüsierdamen sprangen wie junge Rehe um und auf ihn. In seiner weitläufigen Wohnung waren in mehreren Ecken mehrere Bettstätten. Sie benützten heute Nacht das breite rote Canapé mit den quietschenden Federn. So stöhnte die Federung mit den übertriebenen Lustschreien der Nutten um die Wette, während sie das Auf und Ab der sexuellen Übereinkunft vertikal zu unterstützen suchte. An den Armlehnen zuckten dazu goldene Quasten bei jedem Stoß wie Seismographennadeln.
    »Du Saukerl«, schrien die Damen. »Du elender Saukerl!« Weil sie mussten.
    Der Gefallen, der Klaus Sauckel diese Bude eingebracht hatte, hatte darin bestanden, die Ehefrau eines Generals zu verführen, und sich auf frischer Tat erwischen zu lassen, damit der seine Ehefrau aus triftigem Grund zum Teufel schicken konnte. Des Generals Arm reichte nicht für eine Beförderung in gemütlichere Arbeitsatmosphären, aber für dieses Eigenheim, in dem Orgien an der Tages- und Nachtordnung standen. Hätte er sich stattdessen für eine Beförderung entschieden, wäre er zum Major Sauckel ernannt worden. Er aber wollte ficken, deshalb dieses elitäre Lustschloss, das er sich in der Beletage eines herrlichen Stadthauses für seine Zwecke dekadent einrichtete. Lange hatte er nicht danach suchen müssen. Und der ehemalige Besitzer, ein betuchter jüdischer Kaufmann samt Familie, wurde schlichtweg »entsorgt«.
    In diesem privaten Etablissement feierte er allabendlich wilde Feste, bei denen alkoholische Flüssigkeiten genauso auf dem Speiseplan standen wie der Austausch von Körperflüssigkeiten. Tribut musste er dafür zollen:
    Gerädert und gezeichnet trat Sauckel oftmals seinen Dienst an. Der Schritt schmerzend, der Kopf dröhnend, der Magen flau. Er war dennoch absolut sicher: Es gab sehr viel Schlimmeres als das Leben des Lebemann Sauckels.
    Und so band er den leichten Damen Zöpfe und ritt mit ihnen durch die Nacht.

    Der Friedhof der toten Gegenstände
    Zur gleichen Zeit stieß Ignaz Buchmann mit dem besockten Fuß gegen einen Gegenstand, der scharrend über den Asphalt rutschte. Ein in dieser Stille ohrenbetäubendes Geräusch.
    »Oh«, entfuhr es Ignaz, der erschrak. »Was denn…«
    Ignaz’Augen starrten in die Dunkelheit und hofften, sichtbare Konturen erfassen zu können. Seine Pupillen gewöhnten sich allmählich an die tiefschwarze Nacht. Trotzdem konnte er kaum etwas sehen.
    Ignaz war fokussiert. Fokussiert auf ein bestimmtes Haus, ein bestimmtes Schild, einen bestimmten Namen, einen bestimmten Mann. Seit vielen Monaten hetzte er diesem Ziel entgegen, jetzt, wo es zum Greifen nah schien, war er blind für alle Symbole und Warnungen. Blind für die Geschichte, die einfach weiterlief und Ereignisse knüpfte, die die Welt erschütterten und sie bucklig zurücklassen würde. Oftmals erkannte er Gefahren erst, wenn sie ihm auf die Schulter klopften, so vertieft war er in seine geistigen Phantasieforschungen und den Willen, seinen Plan zu Ende zu bringen.
    Dann waren Aufforderungen wie »Ausweisen!« oder »Bezahlen!« die einzig wirksamen Alarmglocken, die ihn aufschrecken und weiterhetzen ließen. Um ihn herum brach sich der Terror Bahn. Und er war irgendwie zwischen die Fronten geraten.
    Nun tastete er sich vorsichtig im Dunkeln an einer Hausmauer entlang nach vorne. Immer
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