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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben
Autoren: Florian Weber
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Nachbarn um den erzählenden Knaben.
    Aki, sein älterer Bruder, war sein größter Fan und Gönner. Er stahl ihm das Papier und die Graffitgriffel aus den Kramläden des Dorfes und sorgte so für unendlichen Schreibgenuss.
    Aki wollte Verleger werden.
    Ignaz wollte Schriftsteller werden.
    Aki wird nie ein Buch verlegen.
    Ignaz nie ein Buch schreiben, das er gedruckt und gebunden in den Händen hält.
    Aki hatte eine Idee.
    Ignaz raste ihr blind hinterher.
    Einen Eid im Genick.
    Diesen Eid hatte er mit seinem Bruder geschlossen, bevor die große Flucht begann.
    Schließlich landete er hinter einer Sackgassenmauer, auf der ein Stacheldraht gespannt war. Genau so ein Stacheldraht, in dem die Menschen allerorts verreckten, seit der Wahn des Krieges Europa heimgesucht hatte. Auf den Schlachtfeldern. Weggeschmissene Leben, aufgespießt an dünnen Drähten, wie seelenlose Hüllen im Wind flatternd.
    An dem Stacheldraht der Sackgassenmauer flatterten nun einige Stofftriangel von Ignaz’ Hose und ein letzter Fetzen Freiheit.

    Der Physiker
    Heinrich Nusser, Vater von drei Kindern, Mörder von unter anderem zwei Kindern und zwei Frauen, die er vorgestern erschossen hatte, putzte seine Feldstiefel blank und genoss dazu ein Glas blassen französischen Burgunders aus dem ihm frei zugänglichen Kontingent der Eckkneipe »Niski Mężczyzna«.
    Nicht lange fragen. Nicht lange bestellen. Rein. Nehmen. Gehen. Trinken. Es ist so, weil es recht ist. Weil es ihm zusteht. Der Ober sticht den Unter.
    Auf einem kleinen Beistelltisch stand das Rotweinglas, in das er immer wieder seinen Putzlappen tunkte, um Feuchtigkeit zur Optimierung des Lederglanzes zu gewinnen. Ihm war, als hätten die Stiefel bereits einen rötlichen Schimmer angenommen. Seine Kameraden flachsten, er marschiere in Trauben aus Leder. Er fasste es als Kompliment auf. Dass sie ihn hinter seinem Rücken die »dumme Nuss« nannten, war ihm gänzlich unbekannt.
    Seine drei Kinder hatte er bereits vor einer Stunde mit jeweils zwei liebevollen Gute-Nacht-Küssen zu Bett verabschiedet. Annegret, 7 Jahre alt. Die Zwillinge Fritz und Franz, 4 Jahre alt. Die Nusserkinder schliefen fest. In ihrer Heimat. Er küsste jede Nacht das Familienfoto auf seinem Nachttisch, der scheinbar Lichtjahre entfernt von dem seiner Frau stand.
    Als er noch mit seiner Familie in Deutschland vereint gewesen war, putzte er seine Lederschuhe auch mit Rotwein. Mit gutem Lemberger. Dieser edle Tropfen, ein Präsent von Großonkel Jakob, der Bürgermeister in einer Pfälzer Kleinstadt war, war kein Vergleich zu dem Gesöff der Franzosen.
    Seine Frau Ursula machte den abendlichen Haushalt und klapperte mit dem Geschirr und sonstigen Utensilien, die es nach einem anstrengenden Familienalltag am Abend aufzuräumen galt.
    »’n Schluck Wein?«, fragte Heinrich Nusser seine Frau und streckte ihr komischerweise den Putzlappen entgegen, als solle sie daran saugen. Müde lächelnd schüttelte sie den Kopf.
    »Trink nicht so viel, du musst morgen wieder arbeiten.«
    In Deutschland hatte Nusser einen ordentlichen Beruf. Er war Lehrer an einem Gymnasium in Augsburg. Für Mathematik und Physik. Ein Pädagoge, der den Gleichungen der politischen Führung durchaus Großes abgewinnen konnte. Hier, nachdem er sich im Krieg all seiner menschlichen Vorsätze entledigt hatte, musste er momentan nur eins: Patrouillieren. Im ausradierten Sektor. Zum Versteckspielen sollten sie doch einen Dümmeren fragen. Wenngleich er auch hier die Zahlen korrigieren musste. Eine triviale Gleichung, die ohne großen mathematischen Aufwand zu lösen war. Einfach so lange subtrahieren, und zwar Menschenleben, bis null herauskam. War Deportieren eigentlich auch eine mathematische Grundrechenart?
    Immerhin musste er nicht an die Front. Das hatte sein Gutes. Und Aufregung gab’s auch hin und wieder. Dann erschossen sie ein paar, die sich dazu entschlossen hatten, das Versteckspiel zu verlängern. Die Würmer, die sich ins Gebälk gebissen hatten oder sich wie Asseln in Winkeln und Spalten verkrochen und nach der ersten Vertreibung ihr Verbleiben mit Hartnäckigkeit besiegelten. Sie mussten die Holzwürmer ausfindig machen. Man zwang sie anschließend zum Arbeiten, bei grobem Ungehorsam oder je nach Lage der eigenen Laune erschoss man sie gleich. Ideologisch war dies so korrekt wie die Unantastbarkeit physikalischer Gesetze. Zum Beispiel Actio gleich Reactio. Die hierfür wirksame Reactio des Obersten Befehlshabers war, dass seit 1. September
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