Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Greywalker

Greywalker

Titel: Greywalker
Autoren: Kat Richardson
Vom Netzwerk:
beleben. Ich sah inzwischen nur noch einen winzigen hellen Punkt in der Ferne, der über einem blutroten Meer schwebte – alles andere war in Dunkelheit versunken. Mühsam hielt ich das Messer über meinen Kopf und begann, meinen Pferdeschwanz abzusäbeln. Währenddessen stützte ich mich an der Liftwand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Lange braune Haarsträhnen schwebten an meinem Gesicht vorbei zu Boden. Ich stand bereits auf den Zehenspitzen, als ich endlich die letzte Strähne durchschnitt. Vor Übelkeit wankend, taumelte ich nach vorn. In diesem Augenblick öffnete sich die Lifttür, ich stürzte hinaus und ging zu Boden.
    Was als Nächstes geschah, weiß ich nur noch schemenhaft: schreiende Menschen; irgendwelche Schuhe vor meinen Augen; Schmerzen in meinem Oberkörper und meinen Armen; ein Schnalzgeräusch vor meinen geschlossenen Augenlidern; ein Mann mit einem ausländischen Akzent; ein Hämmern in meinem Kopf, als ob jemand Kicker darin spielen würde. Ich glaube, ich musste mich übergeben. Dann schlief ich ein.
    Das war der erste April …
    Einige Tage später kam ich im Krankenhaus wieder zu mir. Es ging mir so verdammt schlecht, dass ich mir ziemlich sicher war, recht gute Überlebenschancen zu haben. Wenn sich das Sterben so schlimm anfühlen würde, wäre sicher keiner bereit, sich dem Tod zu überlassen.
    Inzwischen waren viele Wochen vergangen. Die Schmerzen und das Brennen, die Prellungen, Quetschungen und Wunden wurden allmählich besser und verschwanden, aber meinem Kopf ging es immer noch nicht blendend. Die seltsamen Wahrnehmungsprobleme, unter denen ich seit dem Angriff litt – einige waren unbedeutend, andere überaus beunruhigend –, brachten mich dazu, das Krankenhaus erneut aufzusuchen.
    Dr. Skellehers Bekanntschaft hatte ich bisher noch nicht gemacht; er war der einzige Arzt in der Notaufnahme, als ich dort eintraf. Er sah kaum älter aus als dreißig und schien dringend einen Kaffee zu brauchen. Seine kurzen Haare standen in alle Richtungen ab, was wohl weniger auf sein Modebewusstsein als vielmehr auf seine Verfassung hinwies. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren so groß wie Frisbees. Die Klamotten, die unter seinem weißen Kittel zu sehen waren, konnten als ökologisch korrekt durchgehen. Ein schmaler Lederriemen lugte unter seinem Kittelkragen hervor.
    Die »Vorfälle« liefen wie ein zu schnell abgespulter Film vor meinem inneren Auge ab, während ich dem Arzt davon erzählte.
    Manchmal sah die Welt um mich herum so aus, als würde ich mich in einem Meer von Nebel und verschwimmenden Farben bewegen – wie wenn man im Badezimmer vor einem beschlagenen Spiegel steht. Im Krankenhaus war ich mir nie sicher, wann sich jemand bei mir im Zimmer befand. Die Leute schienen herein und hinaus zu schweben und ständig ihre Gestalt zu ändern. Mein Gehör war ähnlich unzuverlässig. Dumpfes Dröhnen, fernes Gemurmel und seltsame Gurgellaute erreichten meine Ohren, als wäre die Welt in Watte gehüllt. Man erklärte mir, dass Patienten mit einer schweren Gehirnerschütterung so etwas oft erlebten und es mit der Zeit nachlassen würde. Doch bei mir wurde es stattdessen immer schlimmer.
    Auch die Tatsache, dass ich durch das Krankenhausbett gesunken war, hatte mich ziemlich beunruhigt.
    Es war mir nicht erlaubt gewesen, das Krankenbett zu verlassen, ohne dass ein Arzt oder eine Schwester im Zimmer war. Ich war nicht gerade eine Musterpatientin; ich mochte es nämlich nicht, den Nachttopf zu benutzen und entschied mich stattdessen auf die Toilette zu gehen. So weit so gut, obwohl der Weg dorthin nicht gerade einem Walzer mit Fred Astaire gleich kam. Zurück ins Bett zu gelangen war leider eine andere Sache.
    Sobald ich aus dem Bad trat, wurde mir übel. Das Licht im Zimmer wirkte etwas gedämpfter und mein Bett schien viel weiter entfernt als zuvor – es befand sich irgendwo da hinten in dem auf einmal nebelverhangenen Raum. Ich kämpfte mich vorwärts, eiskalt und schweißüberströmt, und versuchte zugleich, meine aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Es roch irgendwie nach Autopsie und Verbrechen. Durch einen kalten Dunst taumelnd, sah ich alles nur noch in einem verwaschenen Grau, das immer dunkler wurde. Mein Bett war zu einem undeutlich schimmernden, pastellfarbenen Block verschwommen. Da stieß mein Schienbein plötzlich gegen das Bettgestell, ich klammerte mich an den Handlauf und hievte mich mühselig hinauf. Für einen Augenblick lag ich wie erstarrt da –
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher