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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition)
Autoren: Merle Kröger
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Leben. Dass die letzten acht Jahre nur ein Traum waren, dass er die sechzehnjährige Silvia niemals aus der Bretterbude ihres Vaters mit nach Hause genommen hatte. Na gut, eigentlich war sie schon da gewesen, als er von der Arbeit kam. »Ich heirate deinen Sohn«, sagte sie zu seiner Mutter und steckte sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Ihr Alter hatte gedroht, ihn umzubringen, wenn ihr etwas zustieße. Nicu versuchte laufend, sie davon abzuhalten, in die Brennerei zu gehen. Sie lachte nur. Er konnte ihr raues Lachen unter Hunderten heraushören. So auch heute.
    Silvia entdeckte ihn ebenfalls und blitzte ihn aus ihren grünen Augen an. Sein Herz schlug noch schneller, verdammt. Schon war sie bei ihm unter dem Dach, blieb kurz stehen, um Atem zu holen, und warf ihm einen scharfen Blick zu. Als ob sie sehen konnte, dass er etwas vor ihr geheim hielt. Er blinzelte und starrte auf seine Füße. Seine Entscheidung stand fest.
    Der Regen prasselte auf das Dach. Silvia legte schützend die Hand auf ihren Bauch. Das Baby würde im Herbst kommen. Nicu wünschte sich eine Tochter, aber bisher war es ein Junge nach dem anderen geworden. Pech gehabt.
    »Gibt’s was, Nicu?«, fragte Silvia.
    »Nichts. Was soll sein?«
    Noch so ein Blick, dann griff sie nach Ionuţ, der Mihai an der Hand hielt. So zogen sie los, ohne ein weiteres Wort und ohne sich umzusehen. Nicu fuhr ein Schmerz in den Magen, er musste sich an der Eisenstange festhalten, die das Vordach hielt. Blaue Farbe, darunter der rote Rost.
    Dann war es vorbei. Langsam überquerte er die Straße. Dort, in der Metallfabrik, begann in wenigen Minuten die Abendschicht. Er zog seine Tasche unter dem Sitz der Bushaltestelle hervor, wo er sie abgestellt hatte. Arbeiter liefen an ihm vorüber. Einer von ihnen würde gleich die Stanzmaschine anwerfen, die Nicu zehn Jahre lang bedient hatte. Seine Maschine.
    Als Letzter kam Bogdan, wie immer zu spät. Das Tor ging schon zu, trotzdem blieb Bogdan bei Nicu stehen. »Wie geht’s, Nachbar?«
    Eine freundliche Geste, weiter nichts. Bogdan wusste, was los war. Wusste, dass der neue Boss alle Ţigani gefeuert hatte, schon vor einer Woche. Wusste, dass Nicu seinen Job verloren hatte, dass er auch seine Wohnung verlieren würde, in der Strada Bucure ş ti, Block 4D, gleich neben Bogdans. Die Fabrik hatte sie ihnen vor drei Jahren zur Verfügung gestellt, die Größe je nach Anzahl ihrer Kinder. So waren sie nebeneinander gelandet.
    Nicu lächelte. »Geh schon, Bogdan, du kommst wieder zu spät. Ich fahre heute noch, aber sag Silvia nichts davon.«
    »Wohin?«, fragte Bogdan.
    In diesem Moment schrillte die Klingel los.
    »Nach Deutschland!«, brüllte Nicu in Bogdans Ohr. »Ich gehe wieder mit meinem Bruder nach Deutschland!«
    Bogdan verstand ihn nicht, es war zu laut. Er zuckte die Schultern, rannte los und quetschte sich gerade noch durch das Tor, bevor es ganz zu war. Drehte sich um und hob die Hand zum Gruß. Der schrille Ton verstummte plötzlich und hallte in Nicus Ohren nach.
    »Mach’s gut, Gadje«, murmelte er. Hinter ihm hupte ein Auto. Er drehte sich um, öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

20. Juni 1992, Turnu Severin
Walachei, Rumänien
    Turnu Severin, Stadt der halb fertigen Paläste und zerfallenden Träume. Marius saß allein in dem Haus, das er für seine große Familie gebaut hatte. Ein imposanter Bau mit drei Türmchen und Zinnen und viel Stuckarbeit, dazu hatte er einen rosa Farbton für die Fassade gewählt. Das Haus entsprach seinem Ansehen. Noch hatte es keinen Wasseranschluss, der Bezirk versprach laufend, Leitungen zu verlegen, tat es jedoch niemals. Nicht in ihrem Teil der Stadt. Erst zwei Zimmer waren so ausgebaut, dass man darin wohnen konnte. An den Fenstern klebten noch die Aufkleber der Firma, bei der er die Rahmen billig erstanden hatte. Am Nachmittag hatte es geregnet, der Strom war wieder einmal ausgefallen. Sie lebten an der tiefsten Stelle der Stadt, wo das Wasser sich sammelte und die ungeteerten Straßen in Schlammpisten verwandelte. Marius fragte sich seit einiger Zeit, ob es richtig gewesen war, seine Familie hierher zu bringen. Sie waren zwar weg aus den Wohnblöcken, endlich unter sich, die letzten Rumänen in der Gegend hatten kurz nach der Revolution ihr Haus verkauft. Doch dann war die Falle zugeschnappt. Einer nach dem anderen aus dem Viertel verlor seine Arbeit. Einer nach dem anderen packte schweigend ein paar Sachen ins Auto und fuhr los Richtung Norden. Fünftausend Familien,
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