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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition)
Autoren: Merle Kröger
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aufzusetzen, und ihr den Inhalator bringen, den sie in der Apotheke bekommen hatten. Doch heute konnte sie den Atem nicht richtig hören. Laute Stimmen kamen aus dem Flur. Sie schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt weit.
    Das flackernde Licht der kaputten Neonröhre blendete sie. Weiter hinten sah sie Arno, der mit einem Papier vor den Männern herumfuchtelte. Arno war eines Tages mit seiner Gitarre im Heim aufgetaucht. Vater mochte ihn, also mochte Adriana ihn auch. Arno baute hässliche Sachen aus Holz, die keiner brauchte, deswegen standen sie im Garten vom Pfarrhaus herum. Arnos Frau, die Pastorin, war auch da. Adriana schob sich vorsichtig durch die Tür. Dan, einer ihrer Nachbarn aus Turnu Severin, hatte einen Baseballschläger in der Hand. Ihr Vater griff nach seinem Arm und redete leise auf ihn ein.
    Plötzlich knallte es hinter ihr. Im selben Moment spürte Adriana die Nachtluft an ihren nackten Beinen. Dann ein Prickeln, als die Splitter ins Zimmer regneten. Sie achtete nicht auf das Glas, rannte zur Großmutter, die im Bett unter dem Fenster schlief. Ihre Augen waren aufgerissen, Keuchen drang aus ihrer Brust. Adriana packte die alte Frau und schüttelte sie, bis Vaters Hände sie von hinten wegzogen.
    Dann war sie allein. Sie saß auf dem Bett und hielt in der Hand den quadratischen Stein, der durchs Fenster geflogen war. Er war in Papier eingewickelt. Ohne nachzudenken packte sie ihn wie ein Geschenk vorsichtig aus und strich den Zettel glatt.
    Einwohner von Kollwitz-Fichtenberg!
Was wird aus unserem Viertel?
Was wird aus unserem Leben?
Wir wollen keine abstoßende Asylantensiedlung werden, sondern ein Stadtteil, wie es unserer Nähe zur Küste entspricht.
Wenn mit Asylanten leben, dann mit welchen, die gewillt sind, sich unseren Lebensnormen anzupassen, und die nicht rumänische SCHEINASYLANTENZIGEUNER sind!
    Adriana ließ den Stein und den Zettel fallen, als wären sie vergiftet. Jetzt, nach einem Jahr in der Schule, verstand sie jedes Wort. ›Adriana macht gute Fortschritte‹, stand in ihrem Zeugnis.
    Sie legte sich aufs Bett. Es roch nach der Großmutter. Durchs offene Fenster hörte sie Stimmen. Deutsche Stimmen. Autos wurden angelassen und fuhren weg. Rumänisch, die Stimme ihres Vaters. Eine Sirene, weit weg, dann näher.
    Eine Melodie bahnte sich den Weg in ihren Kopf. Sie hielt sich die Ohren zu und versuchte statt der Sirene das Lied zu hören. Der letzte Film, damals in Rumänien. Als Vater noch Arbeit hatte und sie fast jeden Sonntag in das Kino gingen, das die indischen Filme spielte. Alle aus ihrem Viertel gingen dahin. Es waren ihre Filme. Adriana schloss die Augen und summte sich in den Schlaf. Aamir Khan. Dil .
    O Priya, Priya
Oh Priya, Priya
Kyon bhoolaa diyaa
Warum hast du mich vergessen?
Bewafaa yaa berahum
Treulose, Herzlose
Kyaa kahoo tuze sanam
Wie soll ich dich nennen, meine Liebste
Toone dil todaa hai
Du brichst mir das Herz
Bhool kyaa huyee ye bataa jaa
Was habe ich falsch gemacht?
    O piyaa, piyaa
Oh Liebster, Liebster
Main teree piayaa
Ich bin doch deine Geliebte
Aasooon ko pee gayee
Meine Tränen schluckte ich
Jaane kaise jee gayee
Ich weiß nicht, wie ich es überstand
Kyaa hain meree majabooree
Wie kann ich dir sagen, was mir zustieß,
Kaise main bataaoo huaa kyaa
Wie kann ich erklären, was geschah?
    O Priya, Priya
Oh Priya, Priya
Kyon bhoolaa diyaa
Warum hast du mich vergessen?

3. Juni 1992, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
    Marius Voinescu hörte Pastorin Gesine zu, ohne dass die Worte für ihn einen Sinn ergaben. Er lauschte einfach dem weichen Singsang der Frau, wie bei der Beerdigung seiner Mutter vor drei Wochen.
    In seiner Erinnerung lag jener Tag wie unter dichtem Nebel, obwohl er sicher war, dass die Sonne geschienen hatte. Ein Auto nach dem anderen rollte ein vor dem Asylbewerberheim. Aus ganz Deutschland kamen sie, Nachbarn und Verwandte aus Turnu Severin. Es war ihre Art zu zeigen, dass man ihn respektierte in seiner Gemeinschaft. Sie nahmen ihn in die Mitte und schirmten ihn von der Außenwelt ab, damit er trauern konnte. Jeder hatte selbst schon mal jemanden verloren und wusste, was zu tun war.
    Doch etwas war anders. Nicht nur, weil sie in Deutschland waren. Marius spürte die Angst seiner Leute, hörte, wie sie flüsternd Neuigkeiten austauschten und plötzlich verstummten, wenn er näher kam. Von Prügeleien und Drohungen sprachen sie. Die ganze, stetig anwachsende Menge von Menschen schien zu brodeln, unter der Oberfläche,
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