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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition)
Autoren: Merle Kröger
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wusste sie nicht. Er nahm ihr die Jacke weg und hielt sie hoch. »Die klauen alles, die Asylanten!« Adriana verstand kein Wort. An dem Tag ging sie frierend nach Hause.
    Eine Woche später passte sie ihn in der großen Pause ab und knallte ihn mit dem Kopf gegen die Wand der Jungs-Toilette. Nicht zu doll, damit es keine blauen Flecken gab. Wie man das macht, wusste sie vom Zugucken auf den Straßen von Turnu Severin. Dann ließ sie ihn kurz ihr Messer sehen, das sie im rechten Stiefel trug. Niemand wusste davon, nicht mal Vater. Gerade der nicht.
    »Noch Fragen?« Das sagten die hier immer. Nils hatte keine Fragen mehr. Seitdem ließen sie sie in Ruhe, alle, als hätte sie eine Krankheit. Hatte sie ja auch. Asylant hieß die Krankheit. Na und?
    Sonst war die Küche um diese Zeit voll, zwanzig, dreißig Frauen gleichzeitig an vier Herden. Ein ewiger Kampf um eine Flamme für den Topf, selbst die Gerüche stritten um den Platz in der Nase. Heute waren alle unterwegs, im Kaufmarkt gab es Ausverkauf.
    Adriana stand am Fenster und stellte zufrieden fest, dass sie wieder ein Stück gewachsen war. Sie konnte jetzt, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, das Meer sehen. Es war grün, mit weißen Schaumkronen. Die Gitterstäbe vor dem Fenster machten daraus ein Muster mit vielen kleinen Kästchen. Ein weißer Punkt, noch einer, noch einer – Vier gewinnt. Das Spiel gab es im Aufenthaltsraum. Sie spielte es abends mit den Brüdern.
    Adriana störten die Gitter nicht. Eines Morgens waren sie da, rundum im Erdgeschoss. Vater sagte, das sei zu ihrem Schutz. Sie sah, dass er wütend war und versuchte, es vor ihnen geheim zu halten. Also stellte sie keine Fragen. Das tat sie nie.
    Noch ein Stück weiter nach links, die Wange an die Scheibe gepresst, und sie sah über den Spitzen der krummen Nadelbäume die Kuppel des Atomkraftwerks. Sie leuchtete in der Sonne. Aus der Schule wusste sie, dass das Kraftwerk nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Länder abgeschaltet worden war. Die Arbeiter mussten aus Fichtenberg weg und sich woanders Arbeit suchen. Wie Vater aus Turnu Severin gekommen war, weil er hier arbeiten wollte. Die einen gingen, die anderen kamen.
    Adriana schreckte vom Fenster zurück: Roch es angebrannt? Drei Schritte zum Ofen. Nicht stolpern, Stiefeletten aus Wildleder in Rosa, mit Absätzen. Jetzt schon die Lieblingsstiefel für diesen Sommer. Adriana trug immer Stiefel. Es fühlte sich einfach besser an. Sie griff nach dem Topflappen, riss die Klappe auf und zog die Kastenform heraus.
    Ein bisschen Qualm, doch das Brot war in Ordnung. Sie betrachtete es kritisch: ihr erstes eigenes Brot. Goldgelb, perfekt. Adriana spürte die Hitze kaum, die aus dem Ofen kam, ihr Gesicht traf und sich mit der stickigen Luft in der Küche vermischte. Ungeduldig wischte sie sich mit einem Zipfel ihres T-Shirts ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Drei Schritte zurück zum Fenster. Sie riss es mit voller Kraft auf und schrie gegen den Wind an: »Vater, kommt ihr zum Essen!«
    Nach der Mutter brauchte sie nicht zu rufen. Seit sie in Deutschland waren, stand sie oft gar nicht mehr auf. »Ich bin so traurig, so traurig, mein Mädchen«, flüsterte sie und zog Adriana auf das Bett herunter in ihre Arme. Adriana mochte das nicht. Sie konnte die Angst riechen, die unter der Bettdecke lauerte wie ein krankes Tier.
    Mit ihren Brüdern Ştefan und Claudiu schwappte eine Welle von Lärm in den Essraum neben der Küche. Ştefan war vier und Claudiu drei, sie hatten ihre eigene Welt. Für die beiden war es unwichtig, ob sie in Rumänien oder in Deutschland lebten. Im Doppelpack konnte ihnen niemand was anhaben. Mit den Jungs kam Vater herein, sie hatten Fußball gespielt. Zum Schluss die Großmutter mit ihrem Gehwagen. Die Räder quietschten, sie brauchte jeden Tag länger für den kurzen Weg vom Aufenthaltsraum über den Flur. Nur den Kopf hielt sie oben, Augen wie ein alter Habicht. Ein Blick auf das Brot, dann zu Adriana.
    Sie versuchte das Lächeln der erwachsenen Frauen nachzuahmen, streckte Vater das Brot entgegen. Er riss ein Stück ab, steckte es in den Mund und kaute mit geschlossenen Augen. Sie folgte jeder Regung in seinem Gesicht. Er öffnete die Augen, strich ihr über den Kopf und nickte.
    Nachts, in ihrem Bett, konnte sie immer noch seine Hand auf ihrem Haar fühlen. Adriana lächelte und lauschte auf den Atem der Großmutter. Die alte Frau wachte oft auf und rang nach Luft. Dann musste sie ihr helfen, sich
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