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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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wussten sie dort schon, genauso wie sie wussten, dass er auch einen Esslöffel wollte, mit dem er alsbald die Saucenreste von seinem Teller schaben können würde. Er streckte seine Hand mit gespreizten Fingern über den Tisch nach mir aus und ermutigte mich, mir Zeit zu lassen. Schon damals hatte er öfter Lücken in seinem Gedächtnis. Kaum eine Sekunde später drängte er mir ein Drei-Gänge-Menü auf. Das sollte ich alles für ihn essen. Dann bestellte er eine teure Flasche Tesoro.
    Ich wehrte mich nicht dagegen, denn er hatte Geburtstag. Mein Vater und ich waren es gewohnt, im Stillen zu essen. Zuhause wollte er die Beschwerden der Kunden nicht mit nach oben nehmen, und wenn wir bei Tisch nicht über Klapplungen, Gürtelrosen oder Glaukome sprechen konnten, blieben wenige Themen über. Er stach mit der Gabel in die Luft über der Schmiedgasse und wies mich daraufhin, dass es schneien würde.
    Ich sagte ihm, dass ich keinen Wetterbericht gehört hatte. „Und trotzdem schneit es“, sagte mein Vater.
    Der Wein war schwer. Das Essen quoll in meinem Mund. Mein Vater aß genüsslich. Regelmäßig schaute er auf meinen Teller. Er verglich mein Essen mit dem seinen. Fand ich es wohl auch gut, so schaute er.
    Ich wollte ihm gefallen, indem ich meinen Teller leer aß. Das war eine Herausforderung. Ich kaute wie besessen. Auf meinem Teller lag kein Salatblatt, unter dem ich ein Stück Fleisch verstecken konnte.
    Als ich Gabel und Messer endlich ablegte, den Kopf abwendete und den letzten Happen mit dem Rest Tesoro hinunterschluckte, holte mein Vater statt mir erleichtert Luft. Er schabte die Saucenreste von seinem Teller, steckte den Löffel in den Mund und schleckte ihn ab, bevor er ihn hinlegte. Danach zog er die Serviette aus seinem Hemdkragen und beugte sich zum Tisch.
    „Hör zu“, sagte er zur Sicherheit.
    Ich schob meinen Teller von mir weg und nickte. Ich dachte, dass etwas Wichtiges kommen musste.
    Mein Vater sagte, dass ich gute Schuhe bräuchte.
    Ich fragte, was er mit gut meinte.
    Er sagte, dass er verlässliche, schöne meinte.
    Ich sagte: „Schöne? Weiße?“
    Er hatte nur eine einzige Art Lachen. Wenn er das hören ließ, führte er irgendetwas im Schilde.
    „Ja, natürlich, weiße“, entgegnete er. „Und einen neuen Kittel mit deinem Namen darauf.“
    Ich sagte, dass ich kein Bedürfnis nach neuen Schuhen oder einem neuen Kittel hatte, mehr noch: Ich fand es unmöglich, dass er an seinem Geburtstag darüber reden wollte, was ich brauchte. Wir sollten lieber darüber sprechen, was er brauchte.
    Er legte die Hand auf seine Brust, schloss die Augen und lehnte sich zurück.
    Ich merkte, dass er nicht darüber nachdachte, was ihm noch fehlte. Was ihm fehlte, war für ihn nicht die größte Sorge. Er sah auch nicht danach aus, als ob er morgen oder nächste Woche noch einmal genauer über diese Frage nachdenken würde.
    Plötzlich blickte er mich direkt an, drehte beide Hände um und zeigte mir, wie leer sie waren.
    Aus dem Nichts heraus fing er von der Wichtigkeit der Bedeutung magistraler und offizineller Herstellungen an. Er betonte, dass da der Gewinn verborgen lag. Er sagte, dass eigene Mixturen die Visitenkarte der Apotheke seien und fragte, wie groß meine Abneigung gegen diese Arbeit sei. Ich sagte: „Sie muss getan werden. Wenn du sie nicht tust, tu ich sie eben.“
    „Richtig“, sagte mein Vater. „Ich werde sie nicht mehr tun.“ Er versprach sich beinahe. Fast zur Gänze entglitt ihm das Wort Drecksarbeit.
    Der Junge, der uns schon den ganzen Abend bedient hatte, war gerade beim Tisch erschienen und hörte es auch. Er verzog keine Miene, sondern maßregelte meinen Vater mit seinem Blick. Er fragte mich, ob wir zufrieden gewesen seien, und ob er abräumen dürfe.
    Ich sagte: „Ja, das darfst du.“
    Er legte das Besteck auf meinen Teller, stapelte die Schüsseln aufeinander, stellte die Teller darauf, das Oberskännchen, den Brotkorb. Während er das tat, nickte er zum Fenster hin und sagte, dass er den Schnee liebe, denn das Weiß verändere das Licht auf der Straße. Wenn wir dann zu Fuß nach Hause gingen, müssten wir einmal darauf achten.
    Meinem Vater und mir fiel so schnell keine Reaktion darauf ein.
    Ich schaute dem jungen Mann nach und bemerkte, dass er in seinem Nacken, genau unter dem Haaransatz und gerade noch über dem Kragen, ein dunkelrotes Muttermal hatte. Ich fragte mich, ob er sich dafür schämte, und ob ich mit so einem Fleck leben könnte.
    Als mein Vater und ich uns
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