Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
Vom Netzwerk:
wieder zueinanderdrehten, fühlten wir, dass wir an unterschiedliche Dinge gedacht hatten. Der Tisch zwischen uns war sehr leer. Die zwei Gläser und das Salzfass standen unordentlich. Ich musste meine Stimme erheben, wenn ich mich verständlich machen wollte. Ich fing von selbst an, anders zu atmen.
    Mein Vater verschob sein Glas.
    Er wollte wissen, ob mir bewusst sei, dass ich ab jetzt, und das noch mein weiteres Leben lang, die Salbenmühlen nach der Verwendung entfetten müsse. Und er lenkte meine Aufmerksamkeit darauf, dass „ab jetzt“ Synonym war für „tagtäglich“. War ich mir dessen bewusst? Hatte ich jemals darüber nachgedacht, dass ich mein weiteres Leben Zäpfchen zählen und in Döschen füllen sollte, mit unserem Familiennamen darauf?
    Ich sah von der Weinflasche zu meinem Vater.
    Er schob sein Glas zu mir.
    Es war sein Geburtstag.
    Ich schenkte ihm Wein ein und sagte: „Schau.“ Ich zeigte ihm das letzte Läckchen Wein, das Flaschenglück. Es war kein Zufall, dass er es bekam.
    Ich stieß mit meinem leeren Glas gegen das seine. Ich sagte: „Gesundheit, Vater.“ Ich sagte: „Noch viele Jahre ohne die Drecksarbeit.“
    Das fand er lustig.
    Er wuchs in die Höhe und die Breite und stieß ein Gebrumm aus, das ich noch nie zuvor von ihm gehört hatte, es war eigenartig. Brumm machte er wie ein kleiner Motor, der warm lief, als Klangkörper die Bank, auf der er saß. Mit ein bisschen Fantasie konnte ich mir vorstellen, dass er den Klang des letzten glückbringenden Läckchens Wein erzeugte.
    Die Augen meines Vaters richteten sich zum Fenster. Ein paar Sekunden lang war sein Blick klar. In diesen paar Sekunden sagte er: „Der Rotzbengel ist aufmerksamer als ich. Was für ein Licht. Man könnte vergessen, dass es Abend ist.“ Es blieb etwas von der Klarheit in diesen Augen zurück. Das meiste verschwand.
    Ich weiß nicht, wie lange ich sein Gesicht betrachtete. Ich glaube, ich starrte ihn an wie ein Suchbild. Hatte ich den Glanz in seinen Augen schon früher bemerkt? Oder war er nur betrunken?
    Im Verlauf von ein paar Minuten verwandelte sich mein Vater von einem grauen, launischen Mann in einen graublauen Herrn, der auch schon einmal die Welt hat vergehen sehen, doch Grau und Blau waren in seinem Fall viele Farben zusammen.
    Ich wusste, dass er sich beim Welscher immer pudelwohl fühlte. Er liebte die dunkle Holzvertäfelung. Das Service nannte er korrekt, was in meinen Ohren nicht gerade wie ein Kompliment klang. Er liebte die Sicherheit des marinierten Fleisches. Er liebte das Kännchen und den Löffel. In keinster Weise dachte er daran, einmal ein anderes Restaurant auszuprobieren, geschweige denn sich jemals zu fragen, ob es andere Restaurants in der Schmiedgasse gab und ob die Schmiedgasse vielleicht auch Seitengassen hatte.
    „Also“, sagte mein Vater, als ob er zusammenfasste, wie der Abend bis hierher verlaufen war. Er lehnte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und schlug die Hände zusammen. Ich schaute ihn an und kehrte in Gedanken zurück zu dem Gespräch über die schönen Schuhe und den neuen Kittel, denn der Abend hatte, nach meinem Gefühl, dort begonnen.
    Ich sah vor mir, wie er die Hand auf seine Brust gelegt und sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt und stur verweigert hatte darüber nachzudenken, was er selbst noch brauchen könnte.
    Ich erinnerte mich an meinen Ärger. Ich erinnerte mich an die Erleichterung, die in seinem Gesicht zu lesen war. Ich war bestürzt, dass ich diese erst jetzt bemerkte.
    Der Mann ist nicht immer verquer, überlegte ich auf einmal. Wenn er die Hand auf seine Brust legt und sich mit geschlossenen Augen nach hinten lehnt, hat das vielleicht eine andere Bedeutung als die, die ich sehe. Vielleicht bedeutet es, dass er froh ist, endlich nicht mehr nachdenken zu müssen, was er selbst noch will. Vielleicht, dachte ich mir, habe ich unterwegs ein Zeichen übersehen.
    Es dämmerte mir, dass mein Vater heute Abend für sein Gefühl etwas abgegeben hatte. Durch das Abgeben hatte er keine großen Bedürfnisse mehr. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er beide Hände gerade eben hochgehoben hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er sie betrachtet hatte, sie mir gezeigt hatte. Ich dachte zu sehen, dass er sie angenehm leer fand, aber das war Interpretation.
    In jenem Moment wurde mir klar, dass er mir viel mehr erzählt hatte, als ich begriffen hatte.
    Er öffnete mir die Türe zum Zubereitungsraum nicht deshalb, weil er sich nur noch mit den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher