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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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wirkt amputiert. Steht man vor dem überaus eindrucksvollen Hauptportal an der zur Stadt ausgerichteten Südseite und schaut dahin, wo sich eigentlich das Langhaus befinden müsste, erblickt man noch dazu stattdessen einen kläglichen Rest der viel kleineren und älteren romanischen Vorgängerbasilika. Sie stammt aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und wird Basse-Œuvre genannt, also etwa Niedrigbau – im Unterschied zum Hochbau, Haute-Œuvre, der gotischen Kirche. Wie in vielen anderen Fällen wurde auch in Beauvais an dem einen Ende mit dem Neubau begonnen, während an dem anderen die alte Kirche weiter benutzt wurde. Bei Bauzeiten von zumeist vielen Jahrzehnten ist das nicht verwunderlich.
    Im Inneren beschleicht den Besucher dieselbe Mischung aus Staunen und Bedauern. Beim ersten Blick in den Chor und zur Decke beeindrucken die schieren Ausmaße – Beauvais besitzt das höchste gotische Gewölbe: 48 Meter hoch thront es über dem lichtdurchfluteten, schwerelos wirkenden Chor. Aber auch wenn man die störenden Holzkonstruktionen übersieht, die die Mauern stützen und Säulen unterstützen müssen und beim Rundgang immer wieder im Weg stehen, erkennt man bei eingehender Betrachtung weitere Ungereimtheiten und Brüche, die sehr viel älter sind. Die Säulenbögen des Chorumgangs, hinter denen sich die obligatorischen Altarnischen befinden, werden zur Vierung hin sehr schmal, weil sie von zusätzlichen Stützsäulen halbiert werden. Die Säulen der Vierung, wo sich Chor- und Querhaus treffen, sind uneinheitlich ausgestaltet. Das Gewölbe der Vierung ist erkennbar improvisiert, es handelt sich um eine recht einfache Holzkonstruktion. Und vor allem prangt da, wo die Vierung ins Langhaus übergehen sollte, eine massive Wand mit einer scheußlich-modernen Orgel. Mehr als ein Stummel des Langhauses wurde nie gebaut. Was hat verhindert, dass diese Kirche zur Vollendung fand? Wieso gelang es den Bischöfen von Beauvais nicht, dieses Monument ihrer Unabhängigkeit und Bedeutung zu vollenden?

Ein folgenreicher Beschluss
    1217 oder 1218 wurde in Beauvais wieder einmal ein neuer Bischof gewählt: Milon de Nanteuil war der dritte Sohn einer einflussreichen Adelsfamilie, und während seine älteren Brüder Grundherrschaften übernahmen, hatte man für ihn eine geist­liche Karriere vorgesehen. Er muss ein stolzer, geltungsbedürftiger Mann gewesen sein und mit großem Ehrgeiz ausgestattet. Milon schwor bei Amtsantritt, er wolle »mit der Hilfe Gottes und der Heiligen Schrift die Rechte, Privilegien und Freiheiten sowie die lobenswerten, althergebrachten Sitten der Kirche von Beauvais bewahren«. Das hatte einen ernsten Hintergrund, denn Milons Vorgänger war vom Domkapitel gemaßregelt worden, weil er in dessen Augen das Bistum nicht genügend vor den begehrlichen Blicken des Königs beschützt hatte, welcher im Zuge seiner Zentralisierungspolitik zum Zwecke der Machtkonsolidierung die traditionellen Privilegien Beauvais’ nicht verschonte. Dadurch war das Bistum beispielsweise seines Münzrechts verlustig gegangen – ein überaus wichtiger und zugleich prestigeträchtiger Bestandteil städtischer Autonomie.
    Aufgrund seines Versprechens saß der Bischof in der Klemme, denn er musste zwischen dem Domkapitel, das auf Unabhängigkeit drang, und dem König lavieren, denn auf beide war er angewiesen. Andererseits konnte Milon darauf bauen, dass er ein gutes persönliches Verhältnis zu König Ludwig VIII. unter­hielt. Der Bischof hatte es aber nicht allein mit König und Domkapitel zu tun, sondern darüber hinaus mit den Bürgern der Stadt, die wiederum untereinander im Streit lagen, sowie mit den Bettelorden, die als junge Religionsgemeinschaften dem alteingesessenen Klerus Probleme machten. Alles in allem herrschte in Beauvais also ein ebenso kompliziertes wie fragiles Machtgefüge.
    Zunächst einmal aber begab sich Milon, wie es zum guten Ton der Zeit gehörte, auf einen Kreuzzug – den von Damiette, der vergeblich die Rückeroberung Jerusalems versuchte und schließlich in Ägypten steckenblieb, wo Milon in Gefangenschaft geriet – und überließ die Amtsgeschäfte dem östlich benachbarten Bischofskollegen von Soissons, dem Schwager seiner älteren Schwester. Wie seine Amtsvorgänger erhielt Milon von den Chronisten als Kreuzfahrer nicht die besten Noten, aber er nutzte nach seiner Freilassung gegen ein erkleckliches Lösegeld die Rückkehr aus Ägypten über Rom, um von Papst Honorius III. höchstpersönlich
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