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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Tess Gerritsen
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großen Teller Bohnenpüree und spült alles mit einem Glas Cola hinunter. Sie hat sich mexikanisches Essen gewünscht, und so sitzen wir nun in diesem Restaurant, wo Mariachi-Musik läuft und die Wände mit grellbunten Gemälden von tanzenden Señoritas geschmückt sind. Trotz ihrer chinesischen Gesichtszüge ist das Mädchen durch und durch amerikanisch, von ihrem kurz geschorenen Haar bis hin zu ihrer zerfetzten Jeans. Ein wildes, unverbildetes Geschöpf, das den letzten Rest aus dem Colaglas schlürft, um dann geräuschvoll auf den Eiswürfeln herumzukauen.
    Mir kommen leise Zweifel am Sinn meines Unterfangens. Sie ist schon zu alt, um die Lehren aufzunehmen; zu verwildert, um Disziplin zu lernen. Ich sollte sie wieder auf die Straße zurückkehren lassen, wenn sie meint, dass sie dorthin gehört, und eine andere Möglichkeit finden. Aber dann fällt mein Blick auf die Narben an ihren Fingerknöcheln, und ich erinnere mich, wie sie um ein Haar im Alleingang die beiden Männer überwältigt hätte. Sie besitzt rohes Talent, und sie ist furchtlos – zwei Dinge, die man niemandem beibringen kann.
    »Erinnerst du dich an mich?«, frage ich.
    Das Mädchen stellt sein Glas ab und runzelt die Stirn. Ganz kurz glaube ich, einen Funken des Wiedererkennens aufblitzen zu sehen, doch dann ist er wieder verschwunden. Sie schüttelt den Kopf.
    »Es ist lange her«, sage ich. »Zwölf Jahre.« Eine Ewigkeit für ein so junges Mädchen. »Du warst noch klein.«
    Sie zuckt mit den Achseln. »Kein Wunder, dass ich mich nicht an Sie erinnere.« Sie greift in ihre Jackentasche, zieht eine Zigarette heraus und macht Anstalten, sie anzuzünden.
    »Du vergiftest deinen Körper.«
    »Es ist mein Körper«, gibt sie zurück.
    »Nicht, wenn du trainieren willst.« Ich beuge mich über den Tisch und schnappe ihr die Zigarette aus dem Mund. »Wenn du lernen willst, muss deine Einstellung sich ändern. Du musst Respekt zeigen.«
    Sie schnaubt. »Sie klingen wie meine Mutter.«
    »Ich habe deine Mutter gekannt. In Boston.«
    »Tja, aber sie ist tot.«
    »Ich weiß. Letzten Monat habe ich einen Brief von ihr bekommen. Sie schrieb mir, sie sei krank und habe nur noch sehr wenig Zeit. Deswegen bin ich hier.«
    Ich bin verblüfft, als ich in den Augen des Mädchens Tränen schimmern sehe, und sie wendet sich rasch ab, als sei es ihr peinlich, Schwäche zu zeigen. Aber in diesem Moment der Verletzlichkeit, ehe sie die Augen niederschlägt, ruft sie mir meine eigene Tochter ins Gedächtnis, die jünger war als dieses Mädchen, als ich sie verlor. Tränen brennen in meinen Augen, aber ich versuche nicht, sie zu verbergen. Der Kummer hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Er war das läuternde Feuer, das meine Entschlossenheit geschärft und meinen Willen gestählt hat.
    Ich brauche dieses Mädchen. Und offensichtlich braucht sie mich ebenso.
    »Ich habe dich wochenlang gesucht«, sage ich.
    »Bei der Pflegefamilie hat’s mir gestunken. Ich komm viel besser allein klar.«
    »Wenn deine Mutter dich jetzt sehen könnte, würde es ihr das Herz brechen.«
    »Sie hatte nie Zeit für mich.«
    »Vielleicht, weil sie in zwei Jobs schuften musste, damit du genug zu essen hattest? Weil sie wusste, dass sie ganz auf sich allein gestellt war?«
    »Sie hat sich von allen immer rumschubsen lassen. Ich hab’s nicht ein Mal erlebt, dass sie sich gegen irgendwen durchgesetzt hätte. Nicht mal gegen mich.«
    »Sie hatte Angst.«
    »Sie hatte kein Rückgrat.«
    Ich beuge mich vor, erfüllt von plötzlicher Wut auf dieses undankbare Gör. »Was deine arme Mutter gelitten hat, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Alles, was sie getan hat, hat sie nur für dich getan.« Angewidert werfe ich ihr die Zigarette zurück. Das ist nicht das Mädchen, das ich zu finden gehofft hatte. Sie mag stark und furchtlos sein, aber kein Gefühl der Kindespflicht bindet sie an ihre toten Eltern, kein Sinn für Familienehre. Ohne eine Beziehung zu unseren Ahnen sind wir nur verlorene Staubkörnchen, die haltlos im Wind treiben, an nichts und niemanden gebunden.
    Ich bezahle ihr Essen und stehe auf. »Ich hoffe, dass du eines Tages zur Einsicht gelangen und verstehen wirst, was deine Mutter für dich geopfert hat.«
    »Sie wollen gehen?«
    »Es gibt nichts, was ich dir beibringen könnte.«
    »Wie kommen Sie eigentlich darauf, mir etwas beibringen zu wollen? Wieso haben Sie mich überhaupt gesucht?«
    »Ich dachte, ich würde jemand anderen vorfinden. Jemanden, den ich lehren
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