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Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)

Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Andreas Stammkötter
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von Beifallsbekundungen abzusehen.‹
    Die Augen der Thomaner waren gespannt auf ihren Kantor gerichtet. Dann kam die Erlösung. Ein kurzes Nicken mit einer leichten, nur für Eingeweihte erkennbaren Andeutung eines Lächelns. Der Kantor war zufrieden. Die nächsten Proben würden nicht allzu stressig werden.
    Wie in einem alten Militärfilm, nachdem das Kommando ›Rühren‹ kam, legten die Thomaner ihre feierliche Haltung ab und fingen an zu reden. Jetzt waren sie nicht mehr die Sänger, die einen tadellosen Auftritt abliefern mussten. In Bruchteilen von Sekunden verwandelten sie sich wieder in die normalen Jungs, die sich nur durch die Kieler Blusen oder die Anzüge von anderen Gleichaltrigen unterschieden.
    Die Kirche leerte sich langsam. In dem allgemeinen Aufbruch fiel es nicht auf, dass sich ein Besucher in der Pansakristei versteckte.
     
    Georg Schießer, ein 14-jähriger Schüler der achten Klasse der Thomasschule, stieß seinem Klassenkameraden Paul Holzhund leicht seinen Ellenbogen in die Seite. »Lass uns schnell in die Stadt gehen, einen Latte trinken. Ich habe noch ein Date mit Pia und Linda abgemacht. Die waren heute auch hier. Aber sag den anderen nichts. Ich will nicht die ganzen Dummschwätzer dabeihaben. Schon gar nicht Ludwig.«
    Paul war sofort im Bilde. »Wir sprinten jetzt in den Kasten und ziehen die Uniform aus. Treffpunkt Waschraum. Wenn die anderen fragen, sagen wir, wir würden noch zusammen den Geschichtsvortrag für Montag vorbereiten. Da will bestimmt keiner mitmachen.«
     
    Georg Schießer stand vor dem großen Spiegel im Waschraum des Alumnats. Sein sportlich schlanker Körper war nur mit einer modernen Jeanshose bekleidet, bei der der hintere Teil des Gesäßes erst kurz vor den Kniekehlen endete. Er befeuchtete immer wieder seinen Kamm unter dem laufenden Wasserhahn, um sein schulterlanges, in trockenem Zustand lockiges Haar akkurat zu scheiteln. Als Paul hereinkam, hatte er das Adidas-Deo ›Cool Ice‹ bereits 40 Sekunden strapaziert. Er verstaute die Dose in seinem Kulturbeutel und griff nach einer Flasche Eau de Toilette ›Cool Water‹ von Davidoff. »Unfreiwillige Leihgabe meines Vaters. Ich hoffe, der flippt nicht aus, wenn er das rauskriegt!«
    Paul war einen halben Kopf größer als Georg und nicht ansatzweise so schmal. Er ging regelmäßig ins Fitnessstudio, um seinen Körper in Form zu halten. Paul trug die gleichen Jeans wie Georg, sein Gesicht war rundlicher. Er hatte schwarze, dicke Haare, die der Justin-Bieber-Welle Tribut zollten. Er schnappte sich Georgs Kamm und versuchte unaufhörlich, seine Haare im seitlichen Bereich über den Ohren nach vorn zu kämmen. Als das nicht gelang, steckte er den Kopf unter den Wasserhahn.
    Georg interessierte sich für das Styling seines Freundes nur am Rande. Nachdem jede Pore seines Oberkörpers mindestens dreifach mit Duftstoffen überlagert war, griff er zu einem Hawaiihemd, das faltenlos auf einem Bügel hing. »Geiles Teil! Das habe ich meinem Alten noch aus den Rippen geleiert.«
    Paul war mit seiner Frisur, zumindest im feuchten Zustand, zufrieden. Nachdem er den Kamm weggelegt hatte, betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. »Scheiße! Ein Pickel. Ausgerechnet jetzt.«
    »Wo?«, fragte Georg mitfühlend.
    »Hier! Direkt auf dem Kinn.«
    »Kein Problem. Den drücken wir aus.«
    »Bist du bescheuert? Das gibt Narben!« Paul kramte in seiner Karstadtplastiktüte rum. »Ich hab da noch was anderes.«
    Nach kurzem Suchen holte er einen Abdeckstift heraus. »Der gehört eigentlich meiner Mutter.« Er schaute auf das Etikett. »L’Oréal. Ist das was Teures?«
    »Scheißegal. Mach schon. Wir müssen los!«

Sonntagmorgen
    Wie jeden Sonntag schloss Alfons Merkel, der Küster, um sechs Uhr die schwere Holztür am östlichen Seiteneingang der Thomaskirche auf. Der Gottesdienst begann erst um 9.30 Uhr, aber es gab vorher viel zu tun. Die Nächte waren in der vorösterlichen Zeit noch kühl, die Kirche musste geheizt werden. Alles musste hergerichtet werden, vom Altarraum bis zum letzten Sitzplatz.
    Die Kirchentür öffnete sich mit einem Quietschen der Scharniere. Er nahm sich vor, beim nächsten Mal an das Öl zu denken. Mit einem Bündel roter Tulpen unter dem Arm, dem Altarschmuck für den heutigen Tag, betrat er das Gotteshaus.
    Sein Gang war gebückt. Merkel hatte die siebzig gerade überschritten. Er befand sich eigentlich schon im Ruhestand, aber er war froh über diese verantwortungsvolle Aufgabe. Er war ein gläubiger
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