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Goldfalke (German Edition)

Goldfalke (German Edition)

Titel: Goldfalke (German Edition)
Autoren: Noreen Aidan
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hungrig.“
    Das war Kiana tatsächlich. Knackige Äpfel, ofenfrisches Fladenbrot, mit Granatapfelsirup bestrichene Pfannkuchen - so viel hatte man ihr noch nie zu essen gestattet. Während Fatima nur hin und wieder ein Häppchen kostete, schob Kiana Unmengen unter der Burka in ihren Mund und war froh, dass niemand die Gier sehen konnte, mit der sie das Essen verschlang. Oder konnten noch andere hier wie Nadschib durch Kleidung sehen?
    „Langsam scheinst du dieser Welt doch etwas abgewinnen zu können“, schmunzelte Fat ima.
    Schnell s chluckte Kiana das Stück Ziegenkäse hinunter, das sie im Mund hatte. „Ich wünschte nur, es würden mich nicht alle so anstarren. Ist das Verachtung in ihren Gesichtern?“ - gut, das war sie gewohnt - „Oder etwa Misstrauen?“
    „ Von beidem etwas, nehme ich an“, antwortete Fatima unverblümt, „und noch einiges mehr. Manche haben Mitleid, weil sie denken, du wärst furchtbar entstellt und müsstest dich deshalb verhüllen. Manche sind misstrauisch, weil sie denken, du hättest etwas zu verbergen. Bereits im Mutterleib bekam nämlich jeder von uns ein Gesicht geschenkt, damit wir uns ehrlich in die Augen sehen können.“ Sie wischte einen Brotkrümel von ihrem Ärmel. „Und die verächtlichen Blicke kommen von denjenigen, die etwas von der Welt kennen, aus der du kommst. Denn sie wissen, dass die Burka das Symbol für eine Tradition ist, in der Frauen als Menschen zweiter Klasse gelten. Wenn du dieses Stoffgefängnis auch hier trägst, wo du nicht dazu gezwungen wirst, zeigst du damit, dass du freiwillig als Mensch zweiter Klasse behandelt werden möchtest. Und die Leute hier im Bunten Basar sind nicht wie ich so unhöflich, dir diese offensichtliche Bitte abzuschlagen.“
    Unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern, fühlte sich Kiana, als hätte Fatima ein Brett aus dem Eselstall nebenan gerissen und ihr ins Gesicht geschlagen. Alles, was Kiana ihr Leben lang an Erziehung eingetrichtert worden war, wurde durch die Worte der alten Frau zerhackt wie Brennholz.
    Fatima verstaute das restliche Essen in einer Stofftasche und Kianas alte Kleidung in einer weiteren. Beides legte sie auf ihren Schoß und deutete auf den nun leeren Pfeilteppich. „Jetzt solltest du ein paar Flugübungen mit deinem Teppich durchführen, um dich mit ihm vertraut zu machen. Setz dich darauf und versuche zunächst den Geradeausflug! Beginne ganz langsam, fliege nicht zu weit weg und erkunde einfach den Basar von oben!“
    „Ich soll … fliegen?“
    „Wozu hätten wir den Teppich denn sonst kaufen sollen?“
    Hin- und hergerissen zwischen Freude und Ängstlic hkeit setzte sich Kiana auf den Teppich mit dem Pfeilmotiv. Er schwankte kaum merklich, wie ein Boot auf ruhigem Gewässer. Zugleich versuchte sie sich damit zu beruhigen, dass man in einem Traum zwar fallen, sich aber nicht verletzen konnte.
    „Lass die Beine nicht runterhängen !“, kommandierte Fatima. „Zieh sie auf den Teppich! Ja, so. Halte dich vorerst mit beiden Händen am Teppichrand fest!“ Ihre Stimme verschärfte sich. „Und nimm endlich diesen würdelosen Gesichtskäfig ab, denn beim Fliegen braucht man freie Sicht!“
    Das traute sich Kiana aber nicht, denn sie war sich sicher, dass Tante Shabnam jede Verfehlung aufspüren konnte, selbst bis in Kianas Träume hinein. „Wie steuert man?“
    „Durch deine Gedanken. Denke deinen Weg, und der Te ppich wird dem Ziel deiner größten Aufmerksamkeit folgen.“
    Vorwärts, dachte Kiana , doch nichts passierte. Sie kniete sich auf den Teppich und versuchte, ihn mit ruckartigen Bewegungen anzuschubsen, doch er stand in der Luft wie festgeklebt. Sie hörte, wie jemand auflachte, schrumpfte innerlich - und bestimmt auch äußerlich - vor Scham. Wie unter Zauber wurde ihr Blick von einer Gestalt angezogen, die lässig am Eckpfosten eines Obststandes lehnte und einen Pfirsich aß. Es war jener schwarzgekleidete junge Mann mit den silberfarbenen Augen, die nun mit belustigter Herablassung auf Kiana gerichtet waren. Und sofort bewegte sich der Teppich zielgerichtet auf ihn zu. So schnell, dass die Burka nur so flatterte.
    „Halt!“, drückte Kiana zwischen zusammengepressten Zähnen heraus. „Halt!“ Doch der Teppich hörte nicht auf sie, auch als sie beidhändig an dessen Rändern zerrte, sondern flog weiter auf den jungen Mann zu. Oh Gott, das sah ja so aus, als würde sie sich diesem Kerl an den Hals werfen wollen!
    … und der Teppich wird dem Ziel deiner größten Aufmer ksamkeit
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