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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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auf der Stelle ersaufen.«
    Philipp beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie Mama das Tablett mit Kakao und Kuchen auf dem Tisch abstellte, geistesgegenwärtig ein Polsterkissen vom Sessel riss und es als Floß in die Fluten warf. Mit beiden Händen ruderte sie herbei, um die Mannschaft des havarierten Schiffs zu bergen.
    Sie war schon eine Richtige. Ganz genau hatte sie erkannt, um was es bei dem derzeitigen Abenteuer ging.
    Der Pirat jedoch hatte sie ebenfalls gesichtet, drehte ab, nahm Kurs auf das Mutterschiff, enterte den Schoß und rollte sich schnurrend darauf zusammen.

    »Captain Mio, du bist ein Spielverderber«, murrte Mama und streichelte den Kater. Laura, Steuermann und Ausguck, empfand diesen Verstoß gegen die Regeln jedoch als Signal, ihren Posten zwischen den beiden umgedrehten Stühlen verlassen zu dürfen, den er, der Kapitän, ihr aufgetragen hatte. Sie näherte sich auf eigene Faust der hoch aufragenden Enteninsel, einem wahren Schlaraffenland.
    »Meuterei! Nehmt sie fest! Legt sie in Eisen. Lasst sie über die Planken gehen!«, brüllte der erboste Kapitän, doch von dem Mutterschiff erhielt er keine Unterstützung.
    »Der Erste Offizier hat das Recht auf einen Landgang«, hieß es lakonisch. »Der Kapitän auch.«
    »Na gut. Dann soll sie leben bleiben. Sie ist ja nur ein wertloses Mädchen.«
    »Deine Meinung zu weiblichen Wesen werden wir beizeiten noch korrigieren müssen, Kapitän Philipp. Aber bevor du Anker wirfst, gib mir doch bitte erst mal einen Überblick über die Lage.«
    Der Seebär schielte zwar ebenfalls verlangend nach der Insel, auf der Milch und Honig flossen, aber gehorsam beugte er sich dem Befehl seines Admirals.
    »Das hier ist die Dracheninsel«, erklärte er und zeigte auf das runde Medaillon inmitten des großen, blauen Seidenteppichs, der den Boden fast des ganzen Raumes bedeckte. »Die darf man nicht anlaufen, weil das Untier jeden Menschen vernichtet.«
    »Verstehe. Er sieht ja auch ganz besonders garstig aus.«
    »Aber in den vier Ecken sind rettende Inseln. Auf ihnen gibt es wunderbare Vögel. Im Süden einen Phönix, im Westen Enten, im Norden sitzt der Pfau und im Osten gibt es Kraniche.«
    »Der Pfau bewohnt eine Höhle, vermute ich«, fragte Mama, die ein erfreuliches Verständnis für das Szenario des aufregenden Spiels bewies, und zeigte auf den Sessel, der über der Pfaueninsel stand.
    »Ja, genau. Manchmal haust aber auch der Pirat dort.«
    »Das habe ich mir fast gedacht.«

    »Ich werde jetzt die Versorgungsinsel entern!«, verkündete der Kapitän nun und verließ das schwankende Schiff. Man musste sich doch ordentlich verproviantieren auf solch langen Seereisen, oder?
    »Nur zu, Seebären. Stärkt euch. Denn anschließend werden wir an Land gehen und neue Kleider besorgen.«
    Laura juchzte auf, und auch Philipp fand diesen Vorschlag erfreulich, wenngleich schimmernde Seiden ihn weniger lockten als die Aussicht, sich heimlich, ohne von Tante Caro erwischt zu werden, aus dem Haus zu stehlen, um das geheimnisvolle Judenviertel zu besuchen. Der Besuch in der Schatzhöhle des Altkleiderhändlers war fast so gut wie der Kampf zwischen Drachen und Piraten. Es bedeutete jedes Mal ein Fest, vor allem, weil es einer der heimlichen Ausflüge mit Madame Mira war. Zufrieden mit der geplanten Unternehmung stärkte er sich kräftig mit dem Streuselkuchen.

Alte Kleider, neue Kleider
    »Ob der Philipp heute still
Wohl bei Tische sitzen will?«
Also sprach in ernstem Ton
Der Papa zu seinem Sohn,
Und die Mutter blicket stumm
Auf dem ganzen Tisch herum.
     
    Heinrich Hoffmann, Struwwelpeter/ Die Geschichte vom Zappelphilipp
    In den engen Gassen hinter dem Rathaus befand sich der vollgestopfte Laden, zu dem mich vor einiger Zeit Madame Mira geführt hatte und den wir nun hin und wieder aufsuchten, um in den abgelegten Gewändern zu wühlen, die der bärtige alte Mann dort in großen Haufen lagerte. Die finanzielle Misere machte es notwendig, auf diese sehr unmondäne Quelle wertvoller Stoffe und Accessoires zurückzugreifen. Wir hatten ein gewisses Geschick entwickelt, brauchbare Kleidungsstücke aus dem Konglomerat abgelegter Gewänder herauszupicken. Fachkundig wie ein Pirat, der seine hart erkämpfte Beute sichtet, stöberte Philipp nach glatten Seidenstoffen. Laura hatte sich auf Batist und Musselin spezialisiert, aus dem Blusen oder leichte Sommerkleider genäht werden konnten. Ich hielt nach möglichst kostbaren Stoffen Ausschau. Die bedruckten

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