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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Autoren: Rüdiger Safranski
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gehörten in die Sparte der Rhetorik, in der man sich zu üben hatte. Ebenso selbstverständlich war das Verseschmieden. Auch das fiel dem Jungen leicht, und er kam bald zu der Überzeugung, daß er die besten Verse machte. Er sagte sie gerne auf, in der Familie und auch bei Freunden. Da gab es eine regelmäßige sonntägliche Zusammenkunft, wo jeder seine Verse vortrug und zur Überraschung des Jungen merkte er, daß die anderen,
welche sehr lahme Dinge vorbrachten,
diese offenbar auch für sehr gut hielten und stolz darauf waren, sogar dann, wenn die Hauslehrer ihnen die Verse geschrieben hatten. Die offenbar törichte Selbsteinschätzung der Kameraden verunsicherte ihn. Ist vielleicht die Wertschätzung der eigenen Verse ebenso unbegründet? Ist er selbst wirklich so gut, wie er sich vorkommt? Diese Ungewißheit, schreibt er,
beunruhigte mich sehr und lange Zeit: denn es war mir durchaus unmöglich, ein äußeres Kennzeichen der Wahrheit zu finden; ja ich stockte sogar in meinen Hervorbringungen, bis mich endlich Leichtsinn und Selbstgefühl
〈...〉
beruhigten
. Wieder das außerordentlich stabile
Selbstgefühl
.
    Die Geschicklichkeit beim Verseschmieden verstrickte den Jungen in eine zwielichtige Geschichte und in seine erste Gretchen-Affäre. Man kann zweifeln, ob sich die Dinge so zugetragen haben, da es dafür keine anderen Quellen gibt. Doch ist es eine schöne Geschichte über die Macht der Wörter.
    Einige junge Leute, die vom tüchtigen Verseschmied gehört haben, machen sich an ihn heran und wünschen als Probestück einen
artigen Liebesbrief in Versen
so aufgesetzt, als hätte ihn ein schüchternes Mädchen an einen Jüngling geschrieben. Im Handumdrehen liefert er das Gewünschte. Er erhält weitere Aufträge, seine Kunstfertigkeit wird offenbar für Zwecke gebraucht, die er nicht mehr durchschaut.
So mystifizierte ich mich selbst, indem ich meinte einen andern zum Besten zu haben, und es sollte mir daraus noch manche Freude und manches Ungemach entspringen.
Das Ungemach besteht darin, daß einige aus der Gruppe den Enkel des Schultheißen überreden, sich beim Großvater für sie einzusetzen. Am Ende findet er sich verstrickt in einem Netzwerk von Korruption, Fälschungen und Unterschlagungen – und mitten darin der begabte Verseschmied als ahnungsloser Helfer. Er habe bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in den gesellschaftlichen Abgrund geblickt, bemerkt Goethe etwas zu bedeutungsvoll.
    Der zunächst erfreuliche Aspekt der Angelegenheit war die Bekanntschaft mit einem schönen, etwas älteren Mädchen, wohl eine Kellnerin. Er verliebte sich in das ›Gretchen‹ genannte Mädchen. Das fünfte Kapitel von »Dichtung und Wahrheit«, ein Höhepunkt des ganzen Werkes, schildert zwei kunstvoll ineinander verschlungene Geschichten: die jener zwielichtigen Mystifikationen, in die er geraten war, und die der glanzvollen Krönungsfeierlichkeiten, die der Jüngling Hand in Hand mit Gretchen erlebte, als handle es sich um eine für beide arrangierte Liebesgabe.
    Gretchen mußte Frankfurt in der Folge der Aufdeckung jener ominösen Machenschaften verlassen. Sie soll gesagt haben:
ich kann es nicht leugnen, daß ich ihn oft und gern gesehen habe; aber ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet und meine Neigung zu ihm war wahrhaft schwesterlich
. Der Verliebte empfand das als eine solche Kränkung, daß er darüber krank wurde. Er konnte kaum mehr schlucken und steigerte sich in ein
Weinen und Rasen
hinein. Zugleich empfand er es entwürdigend,
daß ich um eines Mädchens willen Schlaf und Ruhe und Gesundheit aufgeopfert hatte, die sich darin gefiel, mich als einen Säugling zu betrachten und höchst ammenhaft weise gegen mich zu dünken.
    Er suchte nach Befreiung aus dieser Gefühlslage. Ein Hauslehrer empfahl die Philosophie. Doch er fand darin die Dinge in einem Zusammenhang dargestellt, wie sie ihm nicht in den Kopf gingen. Er wollte sich das Gefühl von Geheimnis und Unerklärlichkeit bewahren. Religion und Poesie waren dafür besser geeignet, die Philosophie aber mit ihren zudringlichen Erklärungen wurde ihm lästig. Allenfalls war der Stolz herausgefordert, beweisen zu wollen, daß er in solche Philosophien
einzudringen fähig war
. Eine solche Selbstbestätigung hatte er jetzt nötig.
    Die Gretchen-Geschichte hatte ihn aus sich selbst herausgesetzt, mit dem noch halb kindlichen, naiven Selbstvertrauen war es vorbei. Er war auf schmerzhafte Weise aufmerksam geworden auf das Urteil anderer. Er sah sich
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