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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Autoren: Rüdiger Safranski
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Geschwister Hand in Hand
, heißt es in »Dichtung und Wahrheit«.
    Goethe erzählt dort auch eine Geschichte, die nicht von ihm selbst aber von späteren Interpreten, insbesondere von Sigmund Freud, in Zusammenhang mit dem Geschwisterverhältnis gebracht wurde. Der Knabe hatte mit dem Küchengeschirr gespielt am Fenster, das zur Straße ging. Er fing an, das Geschirr hinauszuwerfen, und klatschte zu dem schönen Lärm fröhlich in die Hände. Nachbarn stachelten ihn an und so schleppte er alles Geschirr zusammen, dessen er habhaft werden konnte, und warf ein Teil nach dem anderen auf die Straße, bis die heimkehrenden Eltern dem Treiben ein Ende setzten.
Das Unglück war geschehen
, schreibt Goethe,
und man hatte für so viel zerbrochne Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte.
    Die Eltern fanden die Geschichte nicht so lustig, aber auch nicht Sigmund Freud, der darin die unterschwellige Aggression eines Kindes entdeckte, das die Aufmerksamkeit der Mutter nicht mit Geschwistern teilen möchte. Das Zerdeppern von Porzellan deutet er als Ersatzhandlung, Ausdruck einer Tötungsphantasie: die lästigen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit der Mutter sollten verschwinden. Daher Wolfgangs geringe Betrübnis beim Tode des jüngeren Bruders. Goethe habe die Porzellan-Geschichte erzählt, so Freud, um nachträglich noch einmal unbewußt seinen Triumph auszukosten, der alleinige Liebling der Mutter geblieben zu sein. »Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberungsgefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten den Erfolg nach sich zieht.« Gewiß war Goethe der Liebling der Mutter und konnte daraus ein starkes Selbstgefühl entwickeln. Aber darum geht es ihm in dieser Geschichte offenbar nicht. Er stellt sie ausdrücklich in einen anderen Zusammenhang. Er schildert die Lebensweise der Kinder, die nicht abgesperrt im Hause aufwuchsen, sondern auf vielfältige Weise
unmittelbar mit der Straße und der freien Luft in Verbindung
kamen. Insbesondere die Küche war im Sommer nur durch ein Gitter vom Leben auf der Straße getrennt.
Man fühlte sich frei, indem man mit dem Öffentlichen vertraut war.
Die kleine Geschichte vom Zerdeppern des Porzellans soll ein Beispiel geben, wozu diese schöne Freiheit auch führen kann. Die Nachbarn sind vielleicht die eigentlichen Hauptpersonen: das Publikum, dem zuliebe der Kleine das Geschirr auf die Straße wirft. Goethe wird später immer wieder davor warnen, sich von den Publikumsinteressen zu sehr beirren und bestimmen zu lassen. Öffentlichkeit macht frei und stimuliert, aber sie unterwirft einen auch Zwängen. Vor diesem Hintergrund läßt sich diese Anekdote auch als eine Art Urszene für ein Lebensthema Goethes verstehen: die Ambivalenz des Öffentlichen, das man braucht und vor dem man sich auch schützen muß.
    Wolfgang wächst als Stadtkind auf. Nicht Einsamkeit und stilles Naturleben waren die prägenden Eindrücke, sondern das Menschengewimmel, wie es in einer bedeutenden Handelsstadt wie Frankfurt mit seinen 30 000 Einwohnern, seinen dreitausend Häusern, den engen verwinkelten Gassen, den Plätzen, Kirchen, Hafenanlagen, Brücken, Stadttoren nicht anders sein konnte. Goethe schildert eindringlich die Spaziergänge in dieser als Labyrinth erlebten Welt, die Gerüche aus den Krämerläden, Gewürze, Leder, Fisch; die Geräusche des Handwerks, der Weber, der Schmiede, die Rufe der Händler; die von Mücken umschwirrten Auslagen der Metzger. Der Knabe sah sie mit Grausen. Ein Durcheinander, alles schien nur von
Zufall und der Willkür und keinem regelnden Geiste
hervorgebracht zu sein. Und doch stimmte es irgendwie zusammen. In dieses Treiben der Gegenwart ragte das Vergangene, ehrfurchtgebietend und geheimnisvoll, die Kirchen, Klöster, das Rathaus, die Türme, Wälle und Gräben. Gerne begleitete der Junge den Vater, der an den Bücherständen nach alten Stichen, Schriften und Scharteken Ausschau hielt. Die Kinder fanden bei den Trödlern zerfledderte Exemplare ihrer Lieblingsbücher, das waren die später von den Romantikern hoch geschätzten »Haimonskinder«, der »Eulenspiegel«, die »Volksbücher«: die »Schöne Magelone«, die »Melusine« und die »Geschichte des Doktor Faust«.
Eine gewisse Neigung zum Altertümlichen setzte sich bei dem Knaben fest
, schreibt Goethe. Deshalb geht er mit dem Vater die alten Chroniken durch, besonders die Schilderung der Kaiserkrönungen am Ort fesselt ihn. Die alten
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