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Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas
Autoren: Dämonenpforte Die
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mich noch nicht vorgestellt habe«, sagte der alte Mann. »Mein Name ist Hanno Bußnitz, ich war mit deinem Onkel gut befreundet.« Über die Schulter sah er zu Marian, nickte dann auch Linda zu.
    »Urgroßonkel«, warf Marian ein, aber Hanno Bußnitz nahm keine Notiz davon.
    »Von Haus aus bin ich Archäologieprofessor«, fuhr er fort, »Fachgebiet magische Praktiken der Jungsteinzeit. Es ist zwar schon ein paar hübsche Jährchen her, dass ich an der Universität geforscht habe, aber Alter schützt nun einmal nicht vor Neugierde. Vor allem dann nicht, wenn es um die Rätsel der Zeit und der Unsterblichkeit geht. Ein Thema, für das sich in Croplin sozusagen jeder brennend interessiert – kein Wunder bei dem Durchschnittsalter unserer Gemeinde.«
    Er schaltete das Tonbandgerät ein und ließ das Band zurückspulen. »Schreie wie diese hier«, sagte er, »sind seit vielen hundert Jahren im Cropliner Moor zu hören. Unzählige Sagen und Legenden handeln davon, wie arglose Wanderer durch dieses entsetzliche Stöhnen und Heulen um den Verstand gebracht oder sogar in den Tod getrieben worden sind. Aber ich war wohl der Erste, der dem rätselhaften Phänomen mit wissenschaftlicher Sorgfalt auf den Grund gegangen ist – im wahrsten Sinn des Wortes.«
    Er drückte auf die Wiedergabetaste. Augenblicklich füll te sich der Kellerraum mit den grauenvollen Schreien. Lin da ließ die Taschenlampe fallen und hielt sich die Ohren zu. Marian verspürte den plötzlichen Drang, mit diesen Verdammten – wer oder was immer sie sein mochten – mitzuschreien, in ihr Heulen und Jammern einzustimmen. Sein Blick fiel auf die Schlammleichen in ihren Baumsärgen, und für einen Moment schien es ihm, als ob die Schreie aus ihren Mündern kämen. Als ob ihre Brustkörbe sich höben und senkten, um das Geheul aus ihren modrigen Kehlen hervorzupressen.
    »Um Himmels willen, Professor«, schrie Linda, »machen Sie das aus!«
    »Bitte sehr um Entschuldigung.« Bußnitz wandte sich um und drückte folgsam auf die Stopptaste. Das Band drehte sich mit schleifendem Geräusch noch einige Augenblicke lang, dann kehrte Ruhe ein – abgesehen vom Knacken des Eisenofens, in dessen Röhren die Glut allmählich erlosch. »In meinen Ohren«, fuhr er fort, »sind diese Schreie die ausdrucksvollste Musik, die man sich nur vorstellen kann. Daher vergesse ich leider immer wieder, dass Außenstehende diese Auffassung nicht unbedingt teilen.«
    »Allerdings nicht«, sagte Linda. »Auch die Schönheit von Verfolgungsjagden, bei denen man fast zu Tode kommt, will sich mir nicht erschließen. Aber Sie haben doch bestimmt eine gute Erklärung parat, Herr Professor, warum Sie mich und meinen Sohn unbedingt über den Haufen fahren wollten?«
    Der alte Herr wirkte nun aufrichtig zerknirscht. Er hob die Arme, als ob er sich ergeben oder Linda segnen wollte. »Das war unverzeihlich«, sagte er. »Wenn auch eine Verkettung unglücklicher Umstände: Sie haben den Weg, der zu meinem Haus führt, mit der Straße nach Croplin verwechselt – und ich war in größter Eile, da die Back zeit dieser Brüder beinahe abgelaufen war.« Er deutete auf den Ofen, wo die beiden Baumsärge mit den Fußen den aus den offen stehenden Herdtüren ragten.
    »Ich verstehe gar nichts mehr«, sagte Linda. Sie bückte sich, hob die Stablampe auf und schob sie in ihre Handtasche. »Aber ich habe auch keine Lust, mir Ihre seltsamen Geschichten noch länger anzuhören, Herr Professor – machen Sie jetzt bitte draußen den Weg frei, damit wir nach Croplin weiterfahren können.«

4

    »Ich wandere durch das Moor, von früh bis spät«, sagte Hanno Bußnitz und ließ den Motor an, »immer dem Geheule hinterher. Marthelm nannte mich ›Jäger der Schreie‹ oder auch ›Seelenfänger‹, wenn er mich hochnehmen wollte. Dabei versuchte dein Onkel auf seine Weise etwas sehr Ähnliches wie ich.«
    Urgroßonkel, wandte Marian in Gedanken ein, blieb aber still.
    Im Radio, dessen Drehknöpfe so groß wie Espresso-Untertassen waren, lief tatsächlich Rock ’n’ Roll-Musik aus der Ära von Elvis Presley. In jener längst versunkenen Zeit musste Hanno Bußnitz auch schon mindestens dreißig Jahre gezählt haben – und Urgroßonkel Marthelm wäre damals bereits im Ruhestand gewesen, wenn er jemals einem regulären Beruf nachgegangen wäre. Was er jedoch zeitlebens vermieden hatte, soweit Marian wusste.
    Er fühlte ein wildes Bedauern, weil er ansonsten so gut wie gar nichts über Marthelm Hegendahl wusste.
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