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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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ich das verlangen können? Cade ist anscheinend alles andere als geübt im Umgang mit seinen Mitmenschen. Dennoch halte ich es für besser, wenn wir auseinandergehen. Ich muss mich von ihm lösen, geographisch und gedanklich. Wir hätten keine Zukunft miteinander haben können, so oder so nicht. Auch, wenn er mir von Maureen erzählt hätte, hätte das nichts am Endresultat geändert.
    Die Tür schwingt auf und Cade späht vorsichtig um die Ecke auf den Flur. Er nickt mir kurz zu und tritt in den Gang hinaus, ich folge dicht hinter ihm.
    Es ist seltsam, hinter ihm her zu gehen, wissend, dass man diesen Ort nie wieder betreten wird. Es ist befreiend, ich habe das Gefühl, endlich wieder ein Ziel vor Augen zu haben. Eine Entscheidung zu treffen, kann immense Erleichterung bedeuten, auch, wenn man dafür Opfer bringen muss. Ich freue mich schon jetzt darauf, zurück nach Manhattan zu gehen. Ich werde mich dort verstecken müssen, aber ich sehne mich nach der Ordnung und Struktur eines geregelten Tagesablaufs. Zumindest versuche ich, mir diesen Gedanken schmackhaft zu machen. Leicht wird es nicht. Und Carl ... Ich habe ihn zurücklassen müssen, was mir unendlich leid tut. Außerdem werde ich Neal bei mir haben. Ja, das ist ein Trost. Er wird mir darüber hinweg helfen, mich in den Falschen verliebt zu haben.
    Wir steigen die Treppe hinauf, die zum Flur führt, an dessen Ende sich der Haupteingang befindet. Cade hat sich nicht ein einziges Mal zu mir umgedreht. Ich habe die ganze Zeit auf seinen breiten Rücken gestarrt. Das schwarze Hemd spannt sich über seinen Muskeln, sein Gang ist leicht und federnd, aber dennoch fest und männlich. Ich habe nie zuvor jemanden so gehen sehen.
    Ich zwinge mich, auf den Boden zu sehen. Ich möchte keinen positiven Gedanken mehr an Cade verschwenden. Er hat mich zu sehr verletzt. Beinahe pralle ich gegen ihn, als er am Ende des Ganges hinter der Treppe stehen bleibt und die Tür öffnet.
    Kühle Luft streift meine Haut, fahles Dämmerlicht fällt mir entgegen. Ist es wirklich schon Abend? Oder ist es Morgen? Ich habe das Zeitgefühl total verloren. Ohne Tageslicht geht das schneller, als ich es für möglich gehalten hatte.
    Wir durchschreiten die Höhle, in der das Auto und das Motorrad verborgen zwischen den grob behauenen Gesteinswänden stehen, und wenden uns nach rechts. Dorthin, wo man mich vor einigen Tagen zum Waschen gebracht hat ... Cade steuert direkt auf die Nische in der Höhlenwand zu.
    »Warte dort. Hier wird dich niemand sehen. Ich gehe und hole Neal«, knurrt er, wobei er kaum die Zähne
    auseinanderbekommt. Seine Silhouette hebt sich schwarz vor dem blaugrauen Abendlicht ab, aber seine orangebraunen Augen leuchten auch durch das Halbdunkel. Es versetzt mir einen Stich, wenn ich daran denke, dass bald eine andere darin versinken wird.
    Er wendet sich ab, ich höre seine leisen Schritte sich entfernen. Dann wird es vollkommen still. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus, obwohl es nicht kalt ist. In meiner Stadt ist es nie so vollkommen still. Dort bin ich auch nie allein gewesen. Und wenn ich doch einmal ohne Neal durch die Straßen gezogen bin, weil ich morgens vor dem Frühstück Sport getrieben habe, habe ich zumindest immer den Wind zwischen den Häuserschluchten hindurch pfeifen gehört, oder das Ächzen in den alten Mauerwerken, oder das Wasser des East River, das sich gegen die Kaimauer wirft. Still hätte es allein deshalb schon nicht sein können, weil die Barriere, die die ganze Stadt umgibt, fortwährend leise surrt. Aber hier fehlen diese Geräusche. Es macht mich beinahe wahnsinnig, weshalb ich anfange, ein altes Kinderlied zu summen, das Carl mir immer vorgesungen hat, als ich noch klein war. Es lenkt mich zudem von meinen quälenden Gedanken ab.
    Ich sehe den Horizont durch die Öffnung der Nische als blasse helle Linie, hinter der die Sonne gerade erst verschwunden ist. Diese Gegend ist tot und einsam. Langsam schiebt sich ein voller Mond den Himmel hinauf, er leuchtet orangerot. Ein gespenstisches Bild.
    Ich versuche, im Zwielicht etwas von meiner Umgebung zu erkennen. Die Wanne steht noch immer da, wo ich sie in Erinnerung hatte, aber es befindet sich kein Wasser mehr darin. Wann kommt Cade endlich zurück? Ob etwas Unvorhergesehenes passiert ist? Ob ihn jemand gesehen hat?
    Flüchtig kommt mir in den Sinn, er könnte sein Wort nicht halten und mich mir selbst überlassen. Vielleicht will er mich hier draußen allein lassen, schutzlos
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