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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Autoren: Stefan König
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nur zu Hause rum, und kaum passiert
irgendwas, bist du wieder im Büro. Stimmt’s etwa nicht?«
    »Ich fahre weg«, sagte Hosp. »Ich kaufe mir ein Flugticket oder eine
Bahnkarte und verreise.«
    Doch er wusste nicht, wohin.
    Das Leben, das er führte, zermürbte ihn.
    *
    Marielle saß in der Mensa der SOWI und wartete auf Pablo. Sie hatten sich verabredet, hier eine Kleinigkeit zu
essen. Es war reichlich, ordentlich und nicht besonders teuer. Während sie
wartete, blätterte sie in Canettis »Masse und Macht«, das sie gerade erst am
Bücherflohmarkt in der Aula erworben hatte. Mehrfach wurde sie von anderen Studenten
angesprochen, ein kleiner Small Talk hier, etwas Fachliches dort.
    Sie holte ihre Geldbörse heraus, wollte eigentlich nur nachsehen,
wie viel Geld sie dabeihatte. Da fielen ihr zwei Notizzettel auf, die sie in
einem Seitenfach deponiert hatte.
    Auf dem einen stand die Adresse von Heubergers
Selbstverteidigungskursen. Einen Moment lang war sie geneigt, den Zettel
zusammenzuknüllen und auf das Tablett mit schmutzigem Geschirr zu legen, das
irgendwer gedanken-oder rücksichtslos hier am Tisch hatte stehen lassen.
    Der andere Zettel?
    Felix.
    Wenn du wieder mal ins Zillertal kommst – meldest
du dich? Wir könnten klettern oder irgendwo raufsteigen, wenn du Lust hast.
    Er hatte seine Telefonnummer und seine Mailadresse dazugeschrieben.
    Felix, dachte sie.
    Warum ist das Leben oft so schwierig.
    *
    Marianne Tinhofer war immer noch geschwächt. Dennoch ging sie
täglich ans Grab ihres Mannes am Ostfriedhof. Sie trug einen leichten schwarzen
Mantel, schwarze Schuhe mit flachem Absatz, manchmal einen schwarzen Hut mit
breiter, beinahe eleganter Krempe. Jeden Tag brachte sie eine Blume und legte
sie zu den Kränzen und Gestecken, die sich über der Grabstätte aufhäuften und
die allmählich verwelkten.
    Für mich, dachte sie, war er ein guter Mann. Er war kein schlechter
Mensch. Vielleicht war er kein wirklich guter Mensch. Aber für mich ein guter
Mann. Und für unsere Kinder war er ein guter Vater.
    Immer wieder dachte sie über die Botschaft nach, die er ihr und den
Kindern auf der Kamera hinterlassen hatte. Nichts hatte er davor von seiner
Krankheit erwähnt, nichts davon, dass er nicht mehr lange zu leben gehabt
hätte. Es war eine tief bewegende, erschütternde, traurige und doch auch schöne
letzte Nachricht, die er ihnen gleichsam aus dem Jenseits hatte zukommen
lassen. Als der Kommissar ihr die Nachricht das erste Mal vorgespielt hatte,
war ein Arzt dabei gewesen – was auch gut gewesen war, beinahe wäre sie
zusammengebrochen.
    Sie weinte jetzt häufig, leise und ohne viele Tränen. Beweinte den
Verlust ihres Mannes und noch mehr die Einsamkeit, die sie jetzt umfangen würde
bis ans Ende ihres Lebens. Da halfen auch die Kinder, halfen die Enkelkinder
nichts. Das Alleinsein war wie ein stählerner Ring um ihre Brust. Und dieser
Ring zog sich immer noch stärker zusammen und schnürte ihr das Leben ab.
    Eines Vormittags sah sie eine Frau in Schwarz auf das Tinhofer-Grab
zukommen. Die Frau hatte etwa ihr Alter, ihre Schultern waren nach vorn
gebeugt, dennoch wirkte sie elegant – vielleicht lag das an dem vorzüglich
geschnittenen Mantel, der ihr eine beinahe junge Figur verlieh, vielleicht lag
es an den Pumps oder an der irgendwie aufwendig erscheinenden Frisur:
silbergraues Haar, an der Seite und am Hinterkopf raffiniert zusammengesteckt.
    Die Frau kam immer näher, ging zielstrebig auf das Grab zu.
    »Frau Tinhofer«, fragte sie, als sie dann direkt vor ihr stand. Und
während sie das mehr feststellte als fragte, zog sie den Handschuh ihrer
rechten Hand aus.
    »Ich habe alles in der Zeitung gelesen«, sagte sie. »Ich bin schon
einige Male hierhergekommen. Habe Sie auch schon hier stehen sehen, habe es
aber bislang nicht geschafft, Sie anzusprechen. Aber entschuldigen Sie bitte,
ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Waldtraut Spiss.«
    Sie streckte ihr die Hand entgegen, und Frau Tinhofer nahm sie. Sie
war sehr durcheinander, musste sich erst sammeln und brauchte einige Sekunden,
ehe sie in aller Klarheit begriff, dass diese Frau Spiss die Frau des
Unternehmers war, der den Strudel der letzten Wochen ausgelöst hatte.
    Spiss war tot, ein Zeitungsmann war tot, ihr Mann hätte ermordet
werden sollen. Und sie selbst hatte das alles auch nur mit knapper Not und
zutiefst traumatisiert überlebt. Über das, was sie erlebt und erlitten hatte,
würde sie niemals hinwegkommen.
    »Ich möchte Ihnen
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