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Giftkuss

Giftkuss

Titel: Giftkuss
Autoren: Zara Kavka
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Anja, sondern wie geplant ihr Vater in Teichmanns Grab liegen würde. Sie fing an zu zittern.
    Schluss jetzt! Reiß dich zusammen!
    Sie blickte aus dem Fenster und sah die vier Menschen im Eingangsbereich verschwinden. Zweimal Blut abnehmen, Fingerabdrücke, Speichelproben… Viel mehr gab es bei denen nicht zu tun. Die Ärztin war also höchstens dreißig Minuten beschäftigt.
    Sie schaute auf die Uhr: 23.05. Dass gerade zur richtigen Zeit Beschäftigung für die Klinkenberg reinkam, erleichterte Katharina die Entscheidung. Schnell holte sie ihren Pullover aus dem Rucksack, zog ihn über und wechselte die alten Handschuhe gegen ein Paar neue. Vor dem Kühlraum gab sie den Code ein, doch diesmal löste das Surren der elektrischen Tür nicht das gewohnte vorfreudige Kribbeln aus. Dazu war sie heute viel zu aufgewühlt.
    Das Licht ging automatisch an und sie trat ein. Dank des Wollpullis machte ihr die Kälte nichts aus. Der Boden war bereits getrocknet. Als sie ihre tägliche Schicht im Leichenkühlraum begonnen hatte, hatte sie den Neuzugang in der zweiten Reihe ganz rechts bereits bemerkt. Ihr war sofort aufgefallen, dass die Tür besonders viele Schmierspuren rund um den Griff aufwies, als wäre sie häufig auf- und zugemacht worden. Doch jetzt blitzte die Tür sauber und rein wie all die anderen.
    Auf der Liste links neben der Tür las sie die Daten von Kühlzelle 6: 913/706/22.06.2011 – Mischeder, Henriette.
    Wunderbar, sie lag in der zweiten Reihe von unten, Katharinas Lieblingsreihe. Heute hätte sie keine Nerven dazu gehabt, die Leiche erst mit dem Hubwagen auf die richtige Höhe zu bringen. Sie entriegelte das Schubfach und zog die Teleskopliege so weit heraus, bis die Tote in ihrem grauen Plastiksack in ganzer Länge vor ihr lag.
    Sie zögerte erneut. Ihre Hände zitterten. Sollte sie sich heute wirklich eine zweite Leiche anschauen? Sie durfte jetzt nicht aufgeben, musste das tun, was sie jeden Abend tat. Die Routine war das Einzige, was ihr Halt gab. Ihr musste sie treu bleiben. Nur so würde sie den Tag, die Nacht, den Morgen, die Woche überstehen. Sie drückte Daumen und Zeigefinger so fest auf ihre geschlossenen Lider, bis sie bunte Farben sah. Es wirkte. Einmal tief Luft holen – und los.
    Während sie den Reißverschluss öffnete, starrte sie wie gebannt auf den Leichensack. Wie immer in diesem Moment hatte sie keine Ahnung, was sie erwartete. Ihr Atem ging flach, die Anspannung schnürte ihr die Kehle zu.
    Immer weiter, nicht nachdenken.
    Als sie den Plastiksack zur Hälfte geöffnet hatte, legte sie das Gesicht der Toten frei und entspannte sich. Der Anblick war harmlos. Sie schätzte sie auf Mitte 40. Ihr halblanges braunes Haar war leicht gelockt, die Ohren eng anliegend und die kleine Nase ebenmäßig geformt. Katharina konnte sich gut vorstellen, dass sie früher einmal sehr schön gewesen war. Doch jetzt war ihr Gesicht aufgedunsen und von spinnenförmigen Blutgefäßen übersät, sogenannten Spider Naevi. Sicher war sie Alkoholikerin gewesen.
    An der linken Schläfe befand sich ein Einschussloch. Sie untersuchte es und fand schwarze Pulversprengungen und einen kräftigen Brandhof. Der Schuss war aus unmittelbarer Nähe abgegeben worden, meist ein untrügliches Zeichen für Selbstmord. Sanft streichelte Katharina die eingefallenen Wangen.
    »Warum warst du so unglücklich?«
    Sie strich über die dünnen Haare und betrachtete die Tote dabei nachdenklich. Dieser Frieden, diese Ruhe, diese Endgültigkeit. Die Toten taten ihr gut und gaben ihr Kraft, immer wieder.
    Sie entschied sich, den Sack nicht weiter zu öffnen, denn sie musste die Leiche nicht näher untersuchen. Der Fall war einfach. Sie schloss den Reißverschluss und schob die Tote auf den leicht gleitenden Schienen zurück in ihre kalte dunkle Höhle.
    Das Polizeiauto stand noch immer vor dem Haupteingang. Katharina blickte auf die rot leuchtende Digitaluhr, die über der Tür hing. 23:20 Uhr. 15 Minuten hatte sie für die Untersuchung gebraucht und es blieb genug Zeit für den Obduktionsbericht. Dafür erneuerte sie nochmals ihre Handschuhe und ließ den Computer hochfahren. Zum Glück stand der direkt unter der Kamera und war damit unsichtbar. Sie warf einen prüfenden Blick durch den Raum und setzte sich so hin, dass sie jede Bewegung im Eingangsbereich im Blick hatte.
    »Bist du Sabrina?«
    Katharina schüttelte sich, als wollte sie die Frage loswerden wie ein Hund das Wasser aus seinem Fell. Endlich war der Computer so weit.
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