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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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Fred und riß Christopher zurück. Der Vorhang glitt wieder vor das Gitter und verdeckte das, was sich dahinter befand. Miranda hörte durch den Stoff hindurch heiseres Röcheln und Keuchen.
    »Die Kleine hat Angst, Chris. Siehst du das nicht?« Fred war nicht wirklich aufgebracht, aber in seinem Gesicht zuckte es unsicher.
    Christopher schüttelte seine Hand ab. »Das geht dich nichts an!«
    »Oh, doch, mein Junge«, erwiderte Fred. »Wenn irgendwas hier drinnen geschieht, machen die mir den Laden dicht.«
    »Nichts wird geschehen«, unterbrach ihn Christopher. »Nichts, hörst du?«
    Fred packte ihn am Ärmel und machte den Mund auf, um etwas zu sagen, als sich plötzlich eine Veränderung in Christophers Zügen vollzog. Das, was er auf dem Speicher in sich gefühlt hatte, brach von einer Sekunde zur anderen durch die Oberfläche.
    Plötzlich war er nicht mehr Herr dessen, was er tat. Mit einem Aufschrei stieß er Fred zurück, setzte nach, schlug ihm ins Gesicht und spürte, wie das Nasenbein des Mannes unter seiner Faust nachgab. Der Verletzte taumelte überrumpelt nach hinten, prallte gegen die Wand, packte hilfesuchend nach dem Stoff des nächsten Vorhangs – und riß ihn mit sich zu Boden.
    Miranda kreischte gellend auf, als sie sah, was dahinter zum Vorschein kam. Und verlor das Bewußtsein.
    Christopher stand gebeugt in der Mitte des Korridors, atmete schwer ein und aus, sah, wie das Mädchen zusammenbrach, und bemerkte, daß Fred, halb unter dem Stoff des herabgerissenen Vorhangs begraben, leise stöhnte und sich anschickte, auf die Beine zu kommen. Hinter ihm rüttelte irgend etwas brüllend am Gitter des Kabinetts.
    Christopher sprang vorwärts, versetzte Fred einen Tritt in die Magengrube, der ihn einen ganzen Schritt zurückschleuderte, dann fuhr er herum, packte die reglose Miranda und rannte los in Richtung des Ausgangs.
    Die wenigen Meter wurden zu einem Spießrutenlauf durch die Hölle. Die Vorhänge rechts und links des Gangs wurden von wütenden Händen ausgebeult und beiseite gerissen, und schnappende Finger tasteten zwischen Gitterstäben hindurch in die Dunkelheit. Jemand riß einen Fetzen aus dem Ärmel von Christophers Jacke, dann waren sie im Freien. Christopher hetzte mit dem leblosen Mädchen im Arm über den Hof, aus der Gasse hinaus auf die Straße und zu der wartenden Kutsche hinter der nächsten Ecke.
    Er erzählte dem Fahrer, die Kleine würde schlafen, versprach ihm ein Trinkgeld und ließ sich und das Mädchen zurück nach Hause bringen.
    Durch den Hintereingang trug er sie ins Haus und vollbrachte das Wunder, sie unbemerkt auf ihr Zimmer und ins Bett zu bringen. Dann eilte er so schnell er konnte in seinen eigenen Raum, um sich zu waschen und umzuziehen. Er hatte noch einiges vor an diesem Tag.
    Es war später Nachmittag, als er sich sauber und unbekleidet auf sein Bett sinken ließ und das Geschehene überdachte. Er war zufrieden mit sich und mit Mirandas Reaktion. Die Kleine würde Tage, vielleicht sogar Wochen brauchen, um sich von dem Schock zu erholen, ganz wie geplant, und sie würde sich hüten, ein Wort über den Vorfall zu verlieren. Nicht nur, weil sie es ihm geschworen hatte, sondern auch aus eigenem Interesse. Ihre Eltern würden sie hart bestrafen, wenn sie erfuhren, daß sie unerlaubt das Haus verlassen hatte.
    Mit solch erbaulichen Gedanken schlief Christopher ein und erwachte erst zwei Stunden später, um mit der Durchführung seiner Pläne fortzufahren.
     
    Gwen und Martin betraten das Dach unbemerkt durch eine Luke im Nordflügel, wo der Speicher vor Jahrzehnten zu Wohnräumen für die Dienstboten ausgebaut worden war. Heute wohnten nur noch Flagg und Ines im Haus, und der Rest des Personals ging am Abend eigene Wege, so daß die gesamte Etage leer stand. Der Butler und die Köchin bewohnten Kammern im Südflügel.
    Ein grandioser Anblick erwartete sie, als sie schließlich aufrecht auf einer waagerechten Plattform aus moosbewachsenen Dachpfannen standen und sich atemlos und staunend umsahen.
    Vor ihnen, in jeder Richtung flach ausgestreckt bis zum Horizont, lag das Dächermeer Londons, eine schier unendliche Ansammlung scharfer Giebel und seichter Spitzen in allen Winkern und Formen, und dazwischen, wie ein spärlicher Wald ohne Äste, stachen Kamine und Schornsteine in den Abendhimmel. Die Sonne berührte mit ihrer unteren Kante den Rand der Welt, und orangerotes Licht lag wie Feuerschein über der Szenerie.
    Neben Gwen atmete Martin tief ein, und sie selbst
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