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Ghost

Titel: Ghost
Autoren: Robert Harris
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obendrein mit der verfluchten Büchertasche, brauchte ich volle zwei Stunden bis nach Hause – erst zur Marylebone Road, dann westwärts in Richtung Paddington. Wie üblich waren das gesamte U-Bahn-System und die wichtigsten überirdischen Bahnhöfe geschlossen worden, um nach weiteren Bomben zu suchen. Der Verkehr auf der breiten Straße war in beiden Richtungen zum Erliegen gekommen, woran sich erfahrungsgemäß bis zum Abend auch nichts ändern würde. (Wenn das Hitler gewusst hätte, dachte ich, dass er gar nicht seine gesamte Luftwaffe hätte aufbieten müssen, um London lahmzulegen: ein aufgeputschter Teenager mit einer Flasche Bleichmittel und einem Beutel Unkrautvertilger hätte es auch getan.) Gelegentlich fuhr ein Krankenwagen über den Randstein auf den Gehweg und versuchte dann, durch eine der Nebenstraßen schneller voranzukommen.
    Ich stapfte der untergehenden Sonne entgegen.
    Es muss gegen sechs Uhr abends gewesen sein, als ich in meiner Wohnung ankam. Ich bewohnte die beiden oberen Stockwerke eines Stuckhauses in einem Stadtteil, der von seinen Bewohnern Notting Hill genannt wird, den die halsstarrige Postverwaltung jedoch weiterhin unter North Kensington führt. Gebrauchte Spritzen glitzerten im Rinnstein. Der Halal-Metzger gegenüber schlachtete selbst. Keine nette Gegend, aber von meinem zum Arbeitszimmer umgebauten Dachgeschoss hatte ich einen Blick über den westlichen Teil Londons, der einem Wolkenkratzer keine Schande gemacht hätte: Hausdächer, Güterbahnhöfe, Stadtautobahn und Himmel – ein weiter urbaner Präriehimmel, besprenkelt mit den Lichtern der Flugzeuge im Landeanflug auf Heathrow. Wegen dieser Aussicht hatte ich die Wohnung gekauft, nicht wegen des Gentrifizierungsgewäschs des Immobilienmaklers – was auch gut war, das reiche Bürgertum war in diese Gegend nämlich ebenso wenig zurückgekehrt wie ins Stadtzentrum von Bagdad.
    Kate war schon da und schaute sich die Nachrichten an. Kate: Ich hatte ganz vergessen, dass sie heute Abend vorbeikommen wollte. Sie war meine ...? Nie wusste ich, wie ich sie nennen sollte. Sie als meine Freundin zu bezeichnen wäre absurd: Niemand auf der falschen Seite der Dreißig hat eine Freundin. Partnerin traf es auch nicht, da wir nicht unter dem gleichen Dach lebten. Geliebte? Wie sollte man sich bei so einem Wort das Lachen verkneifen? Mätresse? Bin ich von Adel? Verlobte? Sicher nicht. Schätze, ich hätte schon früher bemerken müssen, wie bedenklich es war, dass die menschliche Sprache in vierzigtausend Jahren kein Wort für unsere Beziehung hervorgebracht hatte. (Kate ist übrigens nicht ihr richtiger Name, aber ich sehe keinen Grund, warum sie jetzt noch in all das hineingezogen werden sollte. Jedenfalls passt der Name besser zu ihr als der richtige: Sie sieht aus wie eine Kate, will ich damit sagen – vernünftig, aber frech, mädchenhaft, aber immer bereit, einer von den Jungs zu sein. Sie arbeitet fürs Fernsehen, was aber kein Vorwurf sein soll.)
    »Danke für den besorgten Anruf«, sagte ich. »Eigentlich bin ich tot, aber mach dir keinen Kopf deswegen.« Ich küsste sie von oben auf die Haare, ließ die Bücher aufs Sofa fallen und ging in die Küche, um mir einen Whisky zu holen. »Die U-Bahn steht still, komplett. Ich musste den ganzen Weg von Covent Garden laufen.«
    »Mein Armer«, hörte ich sie sagen. »Und dann hast du auch noch eingekauft.«
    Ich ließ mein Glas bis zum Rand mit Leitungswasser volllaufen, trank es halb aus und füllte es mit Whisky wieder auf. Mir fiel ein, dass ich einen Tisch im Restaurant hätte bestellen sollen. Als ich zurück ins Wohnzimmer ging, zog sie gerade ein Buch nach dem anderen aus der Einkaufstasche. »Was soll das?«, sagte sie und schaute mich an. »Seit wann interessierst du dich für Politik?« Und dann hatte sie erkannt, was gespielt wurde. Sie war schlau – schlauer als ich. Sie wusste, womit ich mein Geld verdiente, sie wusste, dass ich meinen Agenten getroffen hatte, und sie wusste alles über McAra. »Sag jetzt bloß nicht, dass sie dich wollen, um das Buch zu schreiben?« Sie lachte. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Sie versuchte es ins Lächerliche zu ziehen. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Sie sprach es mit einem amerikanischen Akzent aus, ähnlich dem dieses Tennisspielers vor ein paar Jahren. Aber ich sah, dass sie entsetzt war. Sie verabscheute Lang, fühlte sich persönlich von ihm betrogen. Sie war einmal Mitglied der Partei gewesen. Auch das hatte ich
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