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Gesichter der Nacht

Gesichter der Nacht

Titel: Gesichter der Nacht
Autoren: Jack Higgins
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– warum nicht? Marlowe schob die Tür auf, und als der
Zug noch langsamer fuhr, sprang er in den Graben am Bahndamm. Vor ihm
war eine Dornenhecke. Er ging ein paar Meter an ihr entlang, bis er
eine Lücke fand, durch die er schlüpfen konnte. Hinter der
Dornenhecke lag eine ruhige Straße. Der Regen trommelte
unablässig durch den Nebel nieder, und Marlowe schlug seinen
Mantelkragen hoch und ging mit weitausgreifenden Schritten die
Straße entlang.
      Als er zum Bahnhofsgebäude kam, blieb er stehen
und betrachtete die Streckenkarte, die in einem Glaskasten an der Mauer
hing. Er hatte keine großen Schwierigkeiten, Litton zu finden. Es
lag an der Hauptstrecke, etwa 130 km von Birmingham entfernt. Bis zum
nächsten größeren Ort, einer Kleinstadt namens Barford,
waren es fünfzehn oder zwanzig Kilometer.
    Die Zeiger der Uhr über dem Eingang
zum Bahnhof wiesen auf drei, und Marlowe legte die Stirn in Falten und
ging die Anhöhe hinunter, auf das Dorf zu, das er im Nebel nur
verschwommen erkennen konnte. Er hatte offenbar länger im Zug
geschlafen, als er gedacht hatte.
      Die Hauptstraße lag wie ausgestorben da, und der
Nebel war noch dichter als auf dem Hügel. Marlowe sah niemanden,
als er den nassen Gehsteig entlanglief. Er blieb einen Augenblick vor
einem Ladenfenster stehen, und aus der Scheibe starrte ihn sein
Spiegelbild an. Mit der in die Stirn gezogenen Mütze und den
breiten Schultern, die den durchweichten Regenmantel beinahe sprengten,
sah er furchterregend und bedrohlich aus.
      Er hob die linke Hand, um sich das Wasser vom Gesicht
zu wischen, und fluchte leise. Blut floß in einem dünnen
Rinnsal seinen Arm hinunter und tränkte den Ärmel seines
Regenmantels. Er vergrub die Hand in der Tasche und eilte weiter. Er
mußte irgendeinen ruhigen Platz finden, an dem er die Wunde neu
verbinden konnte, bevor ihm jemand begegnete.
      Die Straße schien sich endlos zu dehnen. Er war
gut zehn Minuten gelaufen, als er zu einer niedrigen Mauer aus
Feldsteinen kam. Ein Stück weiter sah er ein schmiedeeisernes Tor,
das offenstand, und ein Schild mit der Aufschrift CHURCH OF THE
IMMACULATE HEART, darunter die Gottesdienst- und Beichtzeiten in
verblaßten goldenen Lettern.
      Er ging den Fliesenweg entlang und stieg die vier oder
fünf Stufen hinauf, die zum Portal führten. Er zögerte
einen Moment. Dann nahm er seine Mütze ab und trat in die Kirche.
      Drinnen war es warm und sehr still. Marlowe stand eine
Weile lauschend da. Dann setzte er sich auf eine Bank in der Nähe
der Tür. Er blickte auf den Altar mit den flackernden Kerzen, und
plötzlich schien alles dunkler zu werden. Er beugte sich vor und
legte den Kopf gegen eine steinerne Säule. Müde war er, so
müde wie schon seit langem nicht mehr.
    Nach ein paar Minuten fühlte er sich
besser und stand auf, um seinen Regenmantel und seine Jacke
auszuziehen. Das Taschentuch war verrutscht, die Wunde lag bloß,
und Blut sickerte langsam durch den aufgeschlitzten Ärmel seines
Hemdes. Als er begann, an dem Taschentuch herumzufingern, nahm er eine
Bewegung hinter sich wahr. Eine Stimme fragte leise: »Ist alles
in Ordnung mit Ihnen? Kann ich Ihnen helfen?«
      Marlowe drehte sich mit einem unterdrückten
Aufschrei, um. Eine junge Frau stand neben ihm. Sie trug einen
Männerregenmantel, der ihr zu groß war, und ein Kopftuch.
»Wo kommen Sie denn auf einmal her?« wollte Marlowe wissen.
      Sie lächelte und setzte sich neben ihn.
»Ich habe da drüben in der Ecke gesessen. Sie haben mich
nicht bemerkt.«
      »Nein, ich habe nicht damit gerechnet, daß
um drei Uhr nachmittags jemand in der Kirche ist«, sagte Marlowe.
»Ich bin hier vor dem Regen untergekrochen, weil ich den Verband
an meinem Arm richten wollte. Er ist verrutscht.«
      Die junge Frau hob seinen Arm an und sagte ruhig:
»Das sieht ziemlich böse aus. Sie sollten zum Arzt
gehen.«
      Marlowe riß sich von ihr los und fing an, mit
der rechten Hand das Taschentuch aufzunesteln. »Ist nur eine
oberflächliche Wunde«, sagte er. »Die muß nicht
mal genäht werden.«
      Die junge Frau streckte die Hand aus und löste
behutsam den Knoten. Sie faltete das Taschentuch zu einem breiten
Streifen zusammen und band es eng um die Wunde. Als sie es neu
verknotete, sagte sie: »Lang hält das nicht. Sie brauchen
einen richtigen Verband.«
      »Ist schon gut«, sagte Marlowe. Er stand
auf und zog seinen Mantel an. Er wollte fort, bevor sie zuviel Fragen
stellte.
      Als er den Gürtel
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