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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei
Autoren: Klaus Kreiser
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Griechenland die Dreiteilung in «Flüchtlinge», «Ausgetauschte» und «Einheimische» haften. Flüchtlinge und «Ausgetauschte» bilden mit ihren Nachkommen etwa ein Drittel oder Viertel der heutigen Bevölkerung.
    Nach den Kriegen, die der Osmanische Staat zwischen 1911 und 1918 und danach das Regime der Großen Nationalversammlung von Ankara zwischen 1919 und 1922 fast ununterbrochen führten, war die Bevölkerung Anatoliens von geschätzten 13,7 Millionen auf 11,2 Millionen gesunken. Der Verlust von 2,5 Millionen Menschen in Anatolien verteilte sich folgendermaßen: Etwa zwei Drittel wurden Opfer von Kriegen, Epidemien, aberauch von mörderischen Verfolgungen, ein weiteres Drittel verließ das Land als Flüchtlinge oder im Rahmen des Bevölkerungsaustausches mit Griechenland. 1923 waren von den einst 2,8 Millionen Nicht-Muslimen (20 %) nur 300.000 im Lande geblieben. In Istanbul lebten vor dem Krieg 910.000 Menschen, davon 350.000 Nichtmuslime. Für 1920 werden Zahlen von einer Million bis 1,2 Millionen genannt. Zu den Einheimischen und aus den osmanischen Ländern gekommenen Flüchtlingen drängten sich im November 1920 allein 167.000 «Weiße Russen», die vor der Roten Armee geflohen waren.
    Muslimische Einwanderer konnten das demographische Defizit nur zum Teil ausgleichen. Schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten Einschüchterungen und Anschläge auf Griechen im Ägäis-Raum dazu geführt, dass annähernd 150.000 von ihnen die Osmanischen Länder verließen. Ihre Häuser und Grundstücke wurden muslimischen Flüchtlingen aus Makedonien und dem Kosovo übergeben. Diese Form von «demographic engineering» konnte als Vorzeichen für die Massaker an den Armeniern und Assyrern des anatolischen Ostens gesehen werden. Die armenische Katastrophe von 1915–1916 bedeutete die Vernichtung eines Drittels der armenischen Bevölkerung und die «ethnische Säuberung» von sechs Ost-Provinzen, in denen sie einen erheblichen Prozentsatz der Bevölkerung gebildet hatten. Ein großer Teil wurde durch Zwangsheiraten und Adoptionen Minderjähriger an die Mehrheitsbevölkerung assimiliert. Nach dem Waffenstillstand (Oktober 1918) scheiterten alle Versuche der Kriegsgewinner, die enteigneten und vertriebenen Armenier nach Anatolien zurückzuführen. Lediglich in Kars und in dem von alliierten Truppen kontrollierten Kilikien gelang es vorübergehend, Armenier bis Anfang 1919 wieder anzusiedeln. Von den etwa 120.000 Personen verließen mindestens 50.000 diese Landesteile vor bzw. unmittelbar nach einem türkisch-französischen Abkommen von 1920. Die Einladung der Kemalisten im Oktober 1922 an alle einheimischen Christen, zurückzukehren, war eine leere Geste.
    Einen deutlich spürbaren demographischen Einschnitt löste der Vertrag von Lausanne (24. Juli 1923) aus, der eine Vereinbarungüber den Austausch der christlichen Bevölkerung Anatoliens mit den Muslimen Griechenlands mit dem Stichtag 1. Mai 1924 einschloss. Von 1912 bis etwa Oktober 1924 verließen rund 400.000 Muslime Griechenland, während 1,2 Millionen Orthodoxe aus der Türkei auswanderten. Von Letzteren kamen 627.000 aus Kleinasien, 256.000 aus Ost-Thrakien, 182.000 vom Schwarzmeerrand (Pontos) sowie 40.000 aus Istanbul, die übrigen aus nichttürkischen Gebieten wie dem Kaukasus, der Ukraine und von der Krim.
    Nach den Kriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Bevölkerung unterernährt und die Kindersterblichkeit dramatisch hoch. Der Kampf gegen Malaria und Syphilis schien aussichtslos. Im Westen Anatoliens wurden beim Rückzug der griechischen Besatzungsmacht mehr als hunderttausend Häuser zerstört, beträchtlich waren auch die Verluste an Tieren. Die «Ausgetauschten» wurden, zumal sie zu einem großen Teil «nur» Muslime (wie Pomaken, Albaner und Kreter) und keine «echten» Balkantürken waren, nicht überall in Anatolien mit offenen Armen empfangen. Nicht selten scheiterte die Zuweisung von Wohnsitzen und Ackerland der früheren christlichen Bewohner daran, dass lokale Notabeln längst die Hand auf wertvolle Grundstücke gelegt hatten. In vielen Fällen passte das Land nicht zu den Erfahrungen der Neuankömmlinge, von denen einer klagte: «Die Bergbewohner siedelte man in der Ebene an, die aus der Ebene in den Bergen.» Die jüdische Bevölkerung der Republik zählte 1927 81.872 Personen (zu 95 % Sephardim). Da immer mehr türkische Juden auswanderten, zunächst nach Israel, wohin allein 1949 26.306 gingen, später nach Europa und
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