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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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und kaum jemand dürfte behaupten, die Regierung solle Eltern selbst die Entscheidung überlassen, ob sie ihre Kinder töten dürfen. In der Abtreibungsdebatte ist die Haltung »zugunsten der freien Entscheidung« also nicht wirklich neutral gegenüber der darunter liegenden moralischen und theologischen Kontroverse; sie gründet sich unausgesprochen auf die Annahme, die Lehre der katholischen Kirche zum moralischen Status des Fötus – dass er nämlich vom Zeitpunkt der Empfängnis an eine menschliche Person sei – sei falsch.
    Erkennt man dies an, so heißt das nicht, dass man zugunsten eines Abtreibungsverbots argumentiert. Man räumt damit nur ein, dass Neutralität und Entscheidungsfreiheit als Begründung für das Recht auf Abtreibung nicht ausreichen. Wer das Recht der Frauen verteidigen will, selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen, sollte sich mit dem Argument auseinandersetzen, wonach der heranreifende Fötus eine menschliche Person sei, und zu zeigen versuchen, warum diese Sichtweise falsch ist. Es genügt nicht, zu sagen, das Recht solle in Hinblick auf moralische und religiöse Fragen neutral sein. Die Begründung für die Zulassung der Abtreibung ist ebenso wenig neutral wie die Begründung für ihr Verbot. Beide Ansichten setzen eine Haltung in der darunter liegenden moralischen und religiösen Kontroverse voraus.
    Dasselbe gilt für die Debatte über die Stammzellforschung. Die Befürworter des Verbots sind der Ansicht, dass Forschung, bei der menschliche Embryonen zerstört werden, ungeachtet der zu erwartenden medizinischen Fortschritte moralisch unzulässig sei. Von denen, die diese Ansicht vertreten, glauben viele, das Menschsein beginne mit der Empfängnis, weshalb es moralisch keinen Unterschied mache, ob man nun ein Kind töte oder einen Embryo (selbst in einem sehr frühen Stadium) vernichte.
    Die Verfechter der embryonalen Stammzellforschung verweisen dagegen auf den medizinischen Nutzen, den die Forschung mit sich bringen dürfte, wozu auch mögliche Behandlungen und Heilverfahren für Diabetes, Parkinson und Wirbelsäulenverletzungen gehörten. Die Wissenschaft solle nicht durch religiöse oder ideologische Eingriffe behindert werden; Leuten mit religiösen Einwänden sollte es nicht gestattet werden, ihre Ansichten mittels Gesetzen durchzusetzen, die eine vielversprechende wissenschaftliche Forschung verbieten würden.
    Doch wie bei der Abtreibungsdebatte lässt sich die Zulassung embryonaler Stammzellforschung nicht begründen, wenn man sich nicht der Frage stellt, wann das Menschsein beginnt. Wenn der frühe Embryo moralisch einem Menschen entspricht, dann haben die Gegner der embryonalen Stammzellforschung recht; selbst eine vielversprechende medizinische Forschung würde es nicht rechtfertigen, einen Menschen zu zerstückeln. Kaum jemand dürfte der Meinung sein, es solle gesetzlich erlaubt sein, einem fünfjährigen Kind zur Förderung lebensrettender Forschung Organe zu entnehmen. Demnach ist die Begründung für eine Erlaubnis embryonaler Stammzellforschung nicht neutral, sondern sie impliziert, dass ein im Zuge embryonaler Stammzellforschung vor der Implantation zerstörter Embryo noch kein Mensch sei. 22
    Bei Abtreibung und embryonaler Stammzellforschung ist die rechtliche Frage nicht zu lösen, ohne dass man in der darunter liegenden moralischen und religiösen Kontroverse Stellung bezieht. In beiden Fällen ist Neutralität nicht möglich, weil es um die Frage geht, ob im Zuge des entsprechenden Verfahrens ein Mensch getötet wird. Natürlich geht es bei den meisten moralischen und politischen Kontroversen nicht um Leben und Tod. Anhänger der liberalen Neutralität könnten also erwidern, Abtreibung und Stammzellforschung seien Spezialfälle; soweit nicht die Definition menschlichen Lebens auf dem Spiel stehe, könnten wir Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit und Rechte lösen, ohne Partei zu ergreifen.

Gerechtigkeit und das gute Leben
    Im Verlauf unserer Reise haben wir drei Annäherungen an die Gerechtigkeit erkundet. Einem Ansatz zufolge heißt Gerechtigkeit, den Nutzen oder den Wohlstand zu mehren – das größte Glück für die größte Zahl von Menschen. Der zweite besagt, Gerechtigkeit bedeute, die Wahlfreiheit zu achten – entweder die tatsächlichen Entscheidungen, die Menschen auf einem freien Markt treffen (die libertarianische Ansicht), oder die hypothetischen Entscheidungen, die Menschen in einer Ursituation der Gleichheit treffen
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