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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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Begeisterung erwachsener Menschen, von ihren Trommeln, ihren Gesängen, vom Biergeruch und Zigarettenrauch. In einem Aufsatz über die Welt im Jahr 2000 schrieb ich damals, dass ich Basketballprofi in Amerika sein würde, genauer: in Boston (ohne die geringste Ahnung zu haben, wo Boston genau lag). Ich würde gegen Magic Johnson spielen, ich würde gewinnen, 121:103. Meine Lehrerin Frau Elsner attestierte mir im Zeugnis »die Tendenz, manchmal fast poetisch abzuschweifen«.
    Meine Jugend habe ich in Turnhallen verbracht, ich erinnere mich an jede einzelne, die Umkleidekabinen, Waldläufe, Krafträume, ich erinnere mich an die Busverbindungen dorthin. Wir trampten zu den Europaligaspielen von Bayer Leverkusen, ich erinnere mich an »Sly« Kincheon, an Mike Koch und Arvidas Sabonis. Ich erinnere mich an die knallbunten Kronos-Schuhe von Rimas Kurtinaitis, den sie den »Dreierzar« nannten, weil er der erste Ud SSR – Spieler im Westen war. Ich kenne das Quietschen auf dem Linoleum in Turnhallen von Saloniki bis Soest. Ich bin auf- und abgestiegen, ich habe Fahnen wehen und Trikots brennen sehen, ich lerne heute immer noch Statistiken auswendig. Ich hatte die Trikotnummer 7 wie Toni Kuko ć und lange Haare wie Henning Harnisch. Einmal habe ich am Grab von Dražen Petrovi ć gestanden und war zutiefst gerührt.
    Ich habe zugesehen, wie meine Mannschaftskameraden Bundesligaspieler wurden, Nationalspieler sogar. Ich musste irgendwann einsehen, dass ich nicht gut genug war, um Basketballprofi zu werden, ich war nicht talentiert und kaltschnäuzig genug, in den entscheidenden Momenten hat mir die Hand gezittert. Irgendwann im Sommer 1994 habe ich meine Trikots gefaltet und in den Schrank gelegt. Da liegen sie heute noch.

    Basketball hat mich trotzdem nicht in Ruhe gelassen. Ich bin Enthusiast, aber Fan bin ich nur in seltenen Momenten. Es fällt mir schwer, eine Mannschaft vorbehaltlos gut zu finden. Ich liebe das Spiel, aber da sind immer auch Nostalgie und Melancholie, wenn ich die Spieler beim Training beobachte, in der Kabine, beim Spiel. Es ist mein alter Traum, der mich nicht loslässt. Die klaren Tagesabläufe und sauber gesteckten Ziele, der weite Horizont der körperlichen Möglichkeiten. Es ist die fast völlige Unwahrscheinlichkeit der Erfüllung einer alten Idee. Es ist die Unerreichbarkeit eines körperlichen Zustands, einer Leichtigkeit, Schnelligkeit, Biegsamkeit. Die Sprungkraft, die vergeht. Es ist das langsame Abhandenkommen dieser Möglichkeiten. Das Nicht-gegangen-Sein eines Lebenswegs. Es ist das Verschwinden der Zeit. Ich habe eine Saison lang im Mannschaftsbus von Alba Berlin gesessen, eine Saison lang habe ich beobachtet, was ich als Kind hatte sein wollen. Mein Platz war mittendrin, gleich neben den Wasserkästen.

    Heute also das alles entscheidende Endspiel, dann ist meine Saison vorbei. Ein solcher Showdown klingt fast unglaubwürdig: Am Ende einer langen Saison stehen sich die zwei Schwergewichte des deutschen Basketballs gegenüber, der Titelverteidiger Brose Baskets Bamberg und Alba Berlin. Das eine Team zu Hause noch ungeschlagen, das andere immer wieder nah am K.   o. Zwei Boxer mit schweren, müden Fäusten. Aber dieser irrwitzige Saisonverlauf ist nicht erfunden, und in Bamberg dirigiert Gotthilf Fischer eine alte Aufnahme der deutschen Nationalhymne. Die Bamberger haben eine Saison lang national alles und jeden geschlagen, der sich ihnen in den Weg gestellt hat, manche wurden regelrecht verprügelt, und auch international haben sie sehr respektabel mitgespielt. Die Experten halten die Bamberger Mannschaft in einer Best-of-five-Serie für unschlagbar. Bamberg hat Heimrecht, und Bamberger Heimrecht bedeutet in diesem Jahr die Meisterschaft, »Stand up for the Champion« haben sie auf ihre Klatschpappen drucken lassen.
    Wir spielen heute zum siebten Mal in dieser Saison gegen Bamberg. Beim ersten Mal kassierten wir die höchste Niederlage der Vereinsgeschichte. Die Mannschaft wurde auseinandergeschraubt, demontiert, säuberlich eingetütet und in Einzelteilen nach Hause geschickt, »103:52 – ich war dabei« steht jetzt auf den T-Shirts der Bamberger Fans. Auf der Rückfahrt war das Schweigen im Bus betreten, verunsichert vielleicht, vielleicht zweifelnd. Es war der konkrete Anfang von Coach Luka Pavi ć evi ć s Ende. Bis heute hat kein Berliner Spieler oder Trainer oder Manager dieses Spiel vergessen.
    Zum Gegner ist längst alles gesagt: der amtierende Deutsche Meister, der
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