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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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die Milchglastür. »Just a second!« Luka Pavi ć evi ć war seit drei Jahren Cheftrainer in Berlin, ich kannte ihn nur aus dem Fernsehen und aus der Entfernung der Zuschauertribünen, er schien ein überaus konzentrierter Mensch zu sein. Er trug die Uniform des Trainerstabs: dunkle Anzüge, weiße Hemden und lederbesohlte Schuhe, er schien sich darin nicht wohlzufühlen.
    Was mir schon von Weitem aufgefallen war: eine Narbe quer über Pavi ć evi ć s halben Kopf, von der Stirn ausgehend. Niemand wusste, woher diese Narbe kam, ein Unfall, ein Tumor? Der Krieg, sagte jemand. Wenn der Coach die Halle kurz vor Spielbeginn betrat, mit kantigen und ungelenken Schritten, erkannte man, dass er einmal Spieler gewesen war. Auf Ledersohlen bewegte er sich langsam, fast vorsichtig, seine Karriere schien ihm in den Knochen zu stecken, er wirkte älter, als er war.
    Pavi ć evi ć wurde im Sommer 1968 in Podgorica, ehemals Titograd, geboren. Er sei montenegrinischer Serbe oder serbischer Montenegriner, sagte er mir später, das komme immer drauf an, mit wem er spreche. Ich wusste, dass er der Spielmacher der einst besten europäischen Mannschaft gewesen war, des Teams von Jugoplastika Split. Er hatteToni Kuko ć , Dino Raða und Žan Tabak dirigiert. In seinem ersten Jahr in Berlin war er überraschend Deutscher Meister geworden, ein Jahr später Pokalsieger, aber danach hatten seine Mannschaften trotz ihrer durchschnittlich achtzigprozentigen Gewinnquote keine Titel mehr gewonnen. Zuletzt hatte sein Team im Finale des Eurocup gegen Valencia verloren. Pavi ć evi ć betrat die Halle bei Heimspielen erst spät und saß beim Aufwärmen reglos im Hintergrund. Er sah den Spielern und seinen Assistenten zu, ab und zu zog er einen Zettel aus der Innentasche seiner Anzugjacke und starrte auf das Papier. Er schien die Halle zu ignorieren, die Zuschauer, den Gegner. An der Art, wie er sich die Hände rieb, war seine Konzentration ablesbar, wie er leicht hineinblies, wie er manchmal leise klatschte. Wie ein Skirennfahrer schien er in Gedanken die Strecke zu vermessen, die vor ihm lag. Pavi ć evi ć redete mit sich selbst, seine Lippen bewegten sich kaum merklich. Kurz vor Spielbeginn sprang er plötzlich auf und schüttelte den Schiedsrichtern die Hände, den gegnerischen Trainern, dem Kampfgericht. Dann setzte er sich ebenso plötzlich wieder auf einen Stuhl. Alles war strahlender Lärm, die Scheinwerfer erloschen, die Mannschaften wurden vorgestellt. Der Coach saß still und wartete.
    Das letzte Spiel, das ich von Pavi ć evi ć und Alba Berlin gesehen hatte, war eine kraftlose Niederlage in der Frankfurter Ballsporthalle im letzten Frühsommer gewesen. Alba war gleich in der ersten Runde der Playoffs sang- und klanglos gegen die Frankfurt Skyliners ausgeschieden. Pavi ć evi ć war nach Spielende mit gesenktem Kopf im Spielertunnel verschwunden, die Anzugjacke hinter sich über den Boden schleifend. Er hatte gebückt und unendlich müde ausgesehen, er hatte sich bewegt, als trage er allein die Verantwortung für etwas viel Größeres und Bedeutenderes als ein verlorenes Basketballspiel.
    Mich hatte dieser Eindruck verwundert, aber im Nachhinein weiß ich, dass ich richtig lag: Für den Coach ging es um viel mehr als um dieses eine Spiel. Frankfurt erreichte das Finale um die Deutsche Meisterschaft, auf Alba Berlin wartete ein langer Sommer. Nach dem frühen Ausscheiden hatte das Berliner Management angekündigt, die Ursachen für das enttäuschende Saisonende zu finden. Niemand sei sicher, hatte Geschäftsführer Marco Baldi gesagt, nur der Coach würde bleiben.

    Im Frühjahr hatte ich meinem Jugendidol Henning Harnisch meine Idee von einem Basketballbuch beschrieben. Wir hatten uns in einem Düsseldorfer Flughafenhotel getroffen, mitten in einer Star-Wars-Convention. Um uns herum standen lauter Darth Vaders, Wookies und überlebensgroße R2-D2 s. Prinzessin Lea hatte uns schweigsam Limo serviert. Harnisch war ein Enthusiast, ihm gefiel meine Idee.
    Marco Baldi gab sein Okay bei einem Weizenbier im Schleusenkrug im Tiergarten. »Warum denn ausgerechnet Alba?«, fragte er, und ich erzählte vom Ausscheiden in Frankfurt, das ich im Frühsommer beobachtet hatte. Ich sprach von meinem gescheiterten Traum, Profi zu werden, und meiner Nostalgie, wenn ich Basketballspiele sah. Es würde sicher eine spannende Saison werden. Außerdem wohne ich in Berlin.
    Teammanager Mithat Demirel, ein ausgebuffter Basketballer, der gerade erst seine
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