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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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Pokalsieger, die beste deutsche Mannschaft. Muli Katzurin ist jetzt unser Headcoach, er hat das Team nach all den Niederlagen neu und anders wieder zusammengesetzt. Wie immer haben die Co-Trainer Konstantin Lwowsky, Bobby Mitev und Mauro Parra alle Partien des Gegners gesichtet und Videoclips der Angriffs- und Verteidigungssysteme erstellt, sämtliche Variationen, das gesamte Playbook. Zusätzlich hat jeder Spieler zwanzig Seiten detaillierte Informationen zu den Spielern des Gegners bekommen, zu ihren Stärken und Schwächen, zu ihren Vorlieben, Statistiken, Körpermaßen. Dazu eine DVD mit Videosequenzen der direkten Gegenspieler. Alles ist bekannt, alle Informationen sind da. Man weiß, dass Bamberg das Spiel mit zwei besonderen Spielzügen eröffnen wird, die den Center Tibor Pleiß ins Spiel bringen sollen. Man weiß, dass der irre explosive Kyle Hines in 75 Prozent der Fälle über rechts attackiert, von außen wirft er nur im Notfall. Man kennt seine Armspannweite. Man weiß, wann, wie und von wo Casey Jacobsen werfen wird. Und so weiter. Man weiß eigentlich alles.
    Und alles ist wie immer: die Busroute, das Hotel Residenzschloss. Wir pflegen die gleichen Rituale und Gewohnheiten. Bamberg und Berlin gehen in die letzte Runde der kräftezehrenden Playoffs. Wir spielen best of five. Man kennt sich in- und auswendig. Dieses letzte Spiel ist ein Spiel mit Bedeutung und auf Augenhöhe. Die Haut auf beiden Seiten ist dünn. Als die Finalserie beginnt, hat Alba gerade erst gegen Frankfurt gewonnen. Für die taktische Umstellung ist sehr wenig Zeit, aber alles ist vorbereitet. Katzurin und die Coaches dozieren, die Mannschaft erfährt alles, aber das Wissen bleibt Theorie, Bamberg gewinnt 90:76 und geht in Führung. Im zweiten Spiel läuft es besser, wir gewinnen 80:71. Wir sind am Abgrund eines uneinholbaren Rückstands entlangspaziert und nicht hineingefallen. Es gibt weitere Videostudien und Gespräche. Bryce Taylor sieht sich das komplette Spiel in Zeitlupe an, um den Gegner besser zu verstehen.
    Vor dem dritten Spiel nennt Coach Katzurin Jacobsen nur noch Casey. In einer Playoff-Serie lernt man den Gegner so gut kennen, dass man ihn ungefragt beim Vornamen nennen darf. Die Spieler können die Bewegungsabläufe ihrer Gegenspieler im Training nahezu perfekt imitieren: wie Anton Gavel wirft, wie sich Predrag Šuput beschwert, wie sich Casey mit beiden Händen den Schweiß aus dem Gesicht streicht. Spiel drei geht trotz dieses Detailwissens wieder an Bamberg, 90:74, die Bamberger Halle ist brüllend laut, der Gegner ist besser und konkreter. Das vierte Spiel gewinnt Alba in eigener Halle, sehr handfest und sehr beeindruckend mit 87:67. »Mit Herz«, sagt Micha, der Busfahrer, »mit Verstand und Mut.« Nach dem Spiel schwappt Euphorie durch die Halle, Fahnen wehen, die Menschen tragen Gelb und stehen Spalier. Es steht zwei zu zwei, die Serie ist ausgeglichen.

    Unser Bus erreicht Bamberg. An der Ampel am Ortseingang stehen ein paar Halbstarke mit Zigaretten. Sie rufen etwas, grinsen, aber durch die Scheiben kann man nichts verstehen. Bei Grün recken sie die Fäuste und spucken Richtung Bus. Der dicke Micha flucht und hupt, der Coach sieht nachdenklich aus dem Fenster. Bamberg hat eine gute und eine beängstigende Seite. Die gute: Bamberg ist eine wirklich schöne Stadt. Die Regnitz, die Universität, ein mittelalterlicher Stadtkern, verschlungene Wasserwege, gutes Bier, windschiefe Häuser und Katzenkopfsteine. Micha navigiert nur langsam hindurch, die Gassen sind zu eng und zu malerisch. Touristen spazieren herum, sitzen an Brunnen und essen Eis. Andere machen Bootsfahrten durch Klein-Venedig. Wir passieren ein Spezialgeschäft für Lodenhüte. Die beängstigende Seite Bambergs: die gereckten Fäuste, die gesenkten Daumen, die gestreckten Mittelfinger. Eine Art Wut. Auf das Ortseingangsschild hat jemand mit rotem Edding FREAK CITTTTY ! geschmiert. Bamberg liebt sein Basketballteam und Bamberg hasst seine Gegner.
    Wir wissen, was uns erwartet: »Freak City«. Die Stechert-Arena, einen Gebäudekomplex mit Supermarkt und Getränkehandel am Stadtrand, nennen sie hier die »Frankenhölle«. »Bauernstube« wird Baldi sagen und lächeln, wenn wir aus dem Bus steigen. Vom Parkplatz wird es nach gebratenen Hähnchen riechen. 6100 Bamberger Zuschauer werden pfeifen und brüllen, sie werden auf ihren Trommeln herumprügeln, über allem wird das monotone Dröhnen der Klatschpappen hängen. Rauch wird in der Luft liegen,
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