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Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder

Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder

Titel: Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder
Autoren: Thomas Buehrke
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die Legion der Kinder, die durch ihre Mütter inficiert … sterben mussten.« 10 In einem kurzen Nachwort versicherte Semmelweis, er habe nicht aus Zanksucht geschrieben, aber das Schweigen müsse endlich ein Ende haben, und es sei seine Pflicht und sein Recht zu polemisieren. Gut kam die Polemik nicht an.
    Semmelweis schickte einige Exemplare des dickleibigen Werkes an Kollegen und medizinische Gesellschaften. Als die erhoffte Reaktion ausblieb, griff er zu einer neuen Waffe: dem offenen Brief. Den ersten schrieb er dem Wiener Gynäkologieprofessor Joseph Späth, der sich im März 1861 öffentlich gegen Semmelweis’ Lehre ausgesprochen hatte. Semmelweis beschimpfte ihn nun mit den Worten, seinem Geist sei »die puerperale Sonne« – sprich Semmelweis’ Erkenntnis – nicht aufgegangen, und endete mit dem Ausruf: »Das Morden muss aufhören. … Für mich gibt es kein anderes Mittel, dem Morden Einhalt zu thun, als die schonungslose Entlarvung meiner Gegner.« 11 Der nächste Gegner hieß Scanzoni: »Ihre Lehre, Herr Hofrath, basirt auf den Leichen, aus Unwissenheit ermordeter Wöchnerinnen«, rief er wütend dem »medicinischen Nero« zu: »Sollten Sie aber, Herr Hofrath, ohne meine Lehre widerlegt zu haben, fortfahren, Ihre Schüler und Schülerinnenin der Lehre des epidemischen Kindbett-Fiebers zu erziehen, so erkläre ich Sie vor Gott und der Welt für einen Mörder.« 12
    Die großkalibrigen Worte, mit denen Semmelweis um sich schoss, verwundeten viele Kollegen zutiefst in ihrem Ehrbefinden. Sie empörten sich über den rauen Umgangston: »Auf jeder Seite sind die widerwärtigsten Schimpfereien und Injurien zu lesen«, schrieb der angesehene Leipziger Professor Carl Credé. Sicher war Semmelweis’ Stil nicht dazu angetan, die Altvorderen zu bekehren, aber er sah wohl keine andere Möglichkeit mehr, dem »Morden« ein Ende zu bereiten. Als alles nichts half, verfasste er einen offenen Brief an sämtliche Professoren der Geburtshilfe. Darin beklagte er, dass von der großen Anzahl der Professoren innerhalb von 15 Jahren nur zwei die von ihm entdeckte Wahrheit erkannt hätten. Namentlich seien dies Michaelis in Kiel, der sich das Leben genommen hatte, und Lange in Heidelberg. Damit unertrieb er sicherlich, wie ihm Michaelis’ Nachfolger Louis Kugelmann schrieb: »Nicht viele setzen die Liebe zur Wahrheit über die Selbstliebe«, aber »vergessen Sie übrigens nicht, verehrtester Freund, dass Sie vorwiegend die Stimmen Ihrer Gegner vernehmen, nicht aber erfahren, wie viele sich von Ihnen belehren lassen«. 13 Es gab sie also durchaus, die Anhänger der Semmelweis’schen Lehre, aber sie führten seine Hygienemaßnahmen an ihrer Klinik ohne großes Aufheben ein.
    Die jahrelangen Scharmützel mit den uneinsichtigen bis feindseligen Ärzten, die unablässige Arbeit ohne einen Tag Urlaub – das hinterlässt bei jedem Menschen Spuren, mag er innerlich noch so stark und streitbar sein. Auch Semmelweis schlug der Kampf auf die Psyche. Er zeigte zunehmend Anzeichen von Depressionen und Manie. Im Juli 1865 verfasste der befreundete Kinderarzt János Bókai einen Bericht über Semmelweis’ Zustand. Demnach habe er seine Familie immer stärker vernachlässigt und entgegen seiner bisherigen Gewohnheit zunehmend Alkohol getrunken. Sein Benehmen wurde »unanständiger«, sein Lebensstil verschwenderisch, seineKleidung nachlässig. Außerdem habe er ein Verhältnis mit einem Freudenmädchen angefangen und seine Frau mit ungewohnten sexuellen Praktiken konfrontiert. Letztlich bescheinigte Bókai Semmelweis eine Geistesstörung.
    Semmelweis’ Ehefrau Maria wurde das Benehmen ihres Mannes immer unheimlicher, und eine gerade einmal ein Jahr alte Tochter machte die Situation nicht einfacher. Schließlich riet ihr der befreundete Chirurg János Balassa, Semmelweis in eine Irrenanstalt einweisen zu lassen. Dieses Vorhaben mussten sie ihm freilich verschweigen. Sie empfahlen ihm einen Kuraufenthalt in einem Sanatorium in Gräfenberg. Am 29. Juli machten sich Maria und Ignaz zusammen mit der kleinen Tochter Antonie sowie einem Onkel von Maria und einem Assistenten der Klinik mit der Bahn auf den Weg. Am frühen Morgen erreichten sie den Wiener Hauptbahnhof, wo sie der ehemalige Kollege Hebra erwartete. Der stand natürlich nicht zufällig auf dem Bahnsteig, sondern war zuvor instruiert worden.
    Hebra überredete Semmelweis, gemeinsam sein neues Sanatorium anzuschauen. Semmelweis war darüber hocherfreut, und so machte sich die
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