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Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Titel: Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Autoren: Mary Hooper
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blind waren und auf der Straße Schnürsenkel verkauften, um nicht voneinander getrennt in ein Arbeitshaus gesteckt zu werden. Sie litten furchtbar darunter, direkt unter den lärmenden Cartwrights zu wohnen, wo ein ständiges ein und aus herrschte.
    Auf der ersten Etage wohnten – Tür an Tür, wodurch es sich umso besser miteinander streiten ließ – zwei Familien, die Wilsons und die Popes. Die Wilsons   – Mutter, Vater und drei Kinder – arbeiteten als Straßenfeger und hatten die besten Straßenkreuzungen in Seven Dials unter ihrer Kontrolle. Die Popes hatten vier noch zu Hause wohnende Kinder, die jede Arbeit ausführten, die sich ihnen bot: von Lumpen- und Pferdemistsammeln bis zu Purzelbäumeschlagen, um die Passanten zu unterhalten, und wenn die Zeiten richtig hart waren, Betteln oder gar Stehlen.Mr   Pope unterhielt außerdem ein gut laufendes Geschäft als »Vogelfälscher«, indem er gewöhnliche Vögel bunt bemalte und als exotische Singvögel verkaufte. So mancher blasse Fink, der in Mr   Popes Wohnung verschwand, kam als schillernder Paradiesvogel wieder daraus zum Vorschein. (»Ein ganz besonders seltenes Exemplar, Madam. Hat mein Seemanns-Cousin von weit her mitgebracht.«)
    Nach der Tragödie mit der Teekanne war Lily furchtbar niedergeschlagen in ihr Zimmer zurückgekehrt. Sie hatte sich mit ihren Schätzen beschäftigt – einer glänzenden Muschel, einer ausländischen Geldmünze und noch ein paar nahezu wertlosen Besitztümern, die sie in einer alten Zigarrenschachtel aufbewahrte   –, doch nicht einmal die konnten sie trösten. Nun war fast noch ein ganzer Tag vergangen, und noch immer keine Grace. Was sollte sie bloß tun? Mrs   Macready davon erzählen? Ihre alte Furcht kehrte zurück: Wenn nun Grace gar nicht wiederkam? Dann müsste sie zur Gemeinde gehen und es melden. Sie müsste sich beim Büttel melden, diesem riesengroßen, furchterregenden Mann, und ihm sagen, dass sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte, und dann würde er sie ins Arbeitshaus stecken – und da würde sie nie wieder herauskommen, wäre eingesperrt, ihr Lebtag lang. Der Kopf würde ihr geschoren, es gäbe Tag für Tag nur Steckrüben zu essen, und sie müsste einen Kittel aus grobem Sackleinen tragen, der so auf der Haut kratzte, dass man es nicht aushielt.Wenn Papa zurückkäme, würde er sie dort niemals finden.
Jemand
würde sie aber bestimmt dort finden, schoss es ihr durch den Kopf, und zitternd dachte sie an den Mann, der mitten in der Nacht gekommen war und sich zu ihr ins Bett gelegt hatte. Warum hatte sie nicht geschrien? Warum hatte sie Grace nichts davon erzählt? Als sie jetzt daran dachte, steigerte sie sich in eine maßlose Furcht hinein und fing an, unkontrolliert zu weinen und zu schluchzen.
    Grace, die soeben unten bei der Haustür hereinkam, hörte das Schluchzen und rannte so schnell die Treppe hinauf, wie ihre Röcke und ihr geschwächter Zustand es zuließen.
    »Lily! Was ist denn geschehen?«, rief sie beunruhigt und schloss ihre Schwester in die Arme. »Warum weinst du denn? Ich bin ja jetzt da   … ich bin ja da. Schsch   … Jetzt erzähl mir erst mal, was passiert ist.«
    Lily schniefte und schluchzte noch ein paar Mal und ergab sich ganz in die tröstende Umarmung ihrer Schwester. Der einarmige Mann versank wieder in der Vergangenheit, und sie wollte auch nicht von ihm erzählen, denn es gab ja andere, gegenwärtigere Dinge zu beweinen. Und manchmal passierte es Lily, so wie jetzt, dass die Grenze zwischen Wahrheit und erdachten Geschichten in ihrer Vorstellung irgendwie verschwamm.
    »Ich hab geweint, weil   … weil ein fürchterlicher Mann hereinkam und Mamas Teekanne gestohlenhat!«, sagte sie und fing erneut hemmungslos zu weinen an.
    »Die Teekanne!« Grace stiegen sogleich die Tränen in die Augen, denn ihnen waren nur noch so wenige Andenken an Mama geblieben. »Schsch   … «, sagte sie erneut. »Es macht nichts. Solange dir nichts passiert ist. Solange dieser Mann dir nichts getan hat.«
    Lily beruhigte sich ein wenig. Es war so, wie sie gedacht hatte: Die Teekanne war zwar fort, aber das war nicht so schlimm im Vergleich zu anderen, wichtigeren Dingen. Plötzlich fiel ihr eines von diesen wichtigeren Dingen wieder ein. »Wo ist das Baby?«, fragte sie und blickte suchend über Graces Schulter hinweg in den Raum. »Hast du es nicht mit nach Hause gebracht?«
    Grace seufzte tief. »Es gibt kein Baby.«
    »Dann war doch keins in deinem Bauch?«, fragte sie und
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