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Geheimnisse einer Sommernacht

Geheimnisse einer Sommernacht

Titel: Geheimnisse einer Sommernacht
Autoren: Lisa Kleypas
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Kran ein paar Zentimeter. Auf den Befehl des Earls zog Annabelle fieberhaft an Simons Bein und es gelang ihr, ihn trotz seiner Schmerzensschreie unter dem zermalmenden Träger hervorzuzerren, bevor sich der Kran mit einem dumpfen Schlag wieder senkte.
    Westcliff kam, um Simon aufzuhelfen. Zur Entlastung des verletzten Beins schob er den Arm unter Simons Schulter. Als Annabelle ihren Mann von der anderen Seite stützen wollte, zuckte sie zusammen, so mörderisch fest hielt er sie. Hitze und Rauch machten es ihr fast unmöglich, zu sehen und zu atmen oder gar einen richtigen Gedanken zu fassen. Ein Hustenanfall schüttelte ihren schmalen Körper. Allein hätte sie niemals den Weg aus der Gießerei herausgefunden. Brutal wurde sie von Simon vorangeschoben, erbarmungslos, ohne Rücksicht auf schmerzende Knie oder Fußgelenke über am Boden liegende Schrottteile gezerrt oder manchmal auch gehoben.
    Die Qual schien kein Ende zu nehmen, der Weg unendlich lang, ihr Vorankommen minimal zu sein, während um sie herum die Gießerei bebte und brüllte wie ein wildes Tier, das sich über seine verletzte Beute hermacht.
    Annabelle schwanden allmählich die Sinne. Sie kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, sah glitzernde Funken, aber gleich dahinter wartete eine friedvolle Dunkelheit.
    Später wusste Annabelle nicht mehr, wie sie schließlich den Ausgang gefunden hatten, mit versengten Haaren und Kleidern, mit von der Hitze gerösteten Gesichtern. Alles woran sie sich erinnern konnte, waren die zahllosen hilfreichen Hände, die nach ihr griffen, und die Erleichterung, als plötzlich ihre schmerzenden Beine die Last ihres Gewichtes nicht mehr zu tragen hatten. Ganz langsam war sie umgekippt und irgendjemand hatte sie aufgefangen, während sie gierig die frische Luft einsog. Ein feuchtes, stinkendes Tuch war ihr aufs Gesicht gepresst worden und fremde Hände hatten unter ihr Kleid gegriffen, um ihr Korsett zu öffnen. Benommen vor Erschöpfung hatte sie die rohe Fürsorge über sich ergehen lassen und den Inhalt eines Metallbechers, den man ihr an die Lippen presste, gierig hinuntergeschlürft.
    Als Annabelle schließlich wieder zu sich kam, musste sie erst ein paar Mal blinzeln, um den stechenden Schmerz in ihren Augen zu lindern. „Simon …?“, murmelte sie schwach und wollte aufstehen. Aber jemand drückte sie sacht zurück.
    „Bleiben Sie noch einen Moment liegen“, hörte sie eine heisere Stimme. „Ihrem Mann geht es gut. Ein paar Beulen und einige Verbrennungen hat er, aber das heilt ganz bestimmt wieder. Und das verdammte Bein ist wohl auch nicht gebrochen.“
    Als sie langsam richtig zu Bewusstsein kam, bemerkte sie erstaunt, dass sie auf Westcliffs Schoß saß, auf dem Boden und mit teilweise offenem Kleid. Vorsichtig sah sie zu ihm auf. Seine Gesichtszüge waren harsch und rauchgeschwärzt, seine Haare zerzaust und schmutzig. Der sonst so makellose, so perfekte Earl sah mit einem Mal so sympathisch, so unordentlich, so umgänglich und menschlich aus, dass sie ihn kaum wiedererkannte.
    „Simon …“, flüsterte sie.
    „Er wird gerade zu meiner Kutsche gebracht. Ich muss ihnen ja wohl nicht sagen, wie ungeduldig er bereits auf Sie wartet. Ich bringe Sie beide erst einmal nach Marsden Terrace, dorthin habe ich bereits den Arzt bestellt.“ Westcliff veränderte etwas ihre Position. „Warum sind Sie ihm nachgelaufen? Sie hätten eine sehr reiche Witwe sein können.“ Das war keine spöttische Frage, sondern Interesse, das von Herzen kam. Umso mehr war Annabelle verwirrt.
    Sie antwortete nicht, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen Blutfleck an seiner Schulter. „Halten Sie still“, befahl sie leise und benutzte ihre abgebrochenen Fingernägel als Pinzette, um mit einem schnellen Ruck einen hauchdünnen Metallsplitter herauszuziehen, der aus dem Hemd ragte. Westcliffs Gesicht verzog sich schmerzlich.
    Als sie ihm den Splitter zeigte, schüttelte er ungläubig den Kopf. „Mein Gott. Das habe ich gar nicht bemerkt.“
    Sie hielt den Splitter in der Hand. „Und Sie? Warum sind Sie hineingegangen, Mylord?“, fragte sie misstrauisch.
    „Als man mir sagte, dass Sie in das brennende Gebäude gerannt seien, um Ihren Mann zu retten, hielt ich es für angemessen, Ihnen meine Hilfe anzubieten …, vielleicht eine Tür zu öffnen, Wrackteile beiseite zu räumen …, so etwas eben.“
    „Sie waren eine große Hilfe“, sagte Annabelle ganz bewusst im gleichen ruhigen Ton, und Westcliff grinste.
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